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In Europa war der Wunsch nach einer starken Führung noch nie so ausgeprägt.

Leitartikel
EU-Präsidentschaft

Merkel kann
das Vakuum
ausfüllen


Von Dirk Schröder
Außenminister Frank-Walter Steinmeier stöhnt schon jetzt, wenn er an den Jahreswechsel denkt. In nicht einmal 80 Tagen übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft, und die dann folgenden sechs Monaten stecken voller Herausforderungen. Die Erwartungen des Auslands an Bundeskanzlerin Angela Merkel sind hoch, auf europäischem Parkett die dringendsten Probleme entscheidende Schritte voranzubringen. Es geht um die EU-Verfassung, um die Erweiterung und die damit verbundenen schwierigen Verhandlungen mit der Türkei. Es geht darum, Russland eng an Europa zu binden.
Die Petersburger Gespräche mit Kremlchef Wladimir Putin waren dafür gestern ein guter Auftakt. Aber damit nicht genug, die Bundesregierung übernimmt für das ganze kommende Jahr zudem die Präsidentschaft der führenden sieben Industrienationen und Russlands (G8).
2007 wird also das Jahr, in dem Angela Merkel die große Chance hat, das politische Gewicht Deutschlands in der Europäischen Union, aber auch weltweit auszubauen. Das Fundament dafür hat sie mit ihrem umsichtigen außenpolitischen Agieren schon im zurückliegenden Jahr gelegt und sich bereits eine gehörige Portion Respekt verschafft. Ihr Meisterstück aber muss sie ohne Zweifel im kommenden Jahr vorlegen.
Wahrscheinlich kommt ihr diese schwierige Aufgabe jedoch gerade recht, damit es endlich an der innenpolitischen Front etwas ruhiger wird. Denn es ist nicht zu erwarten, dass der koalitionsinterne Knatsch in der bisherigen Form fortgesetzt wird, während Deutschland im Fokus Europas und der Welt steht.
In Europa war der Wunsch nach einer starken Führung noch nie so ausgeprägt. Frankreichs Präsident Jacques Chirac schwächelt schon länger vor sich hin, und Großbritanniens Premier Tony Blair hat seinen Nachfolger bereits vorgestellt. Die Kanzlerin hat nun die große Chance, dieses Vakuum auszufüllen.
Ganz oben auf der Agenda steht die Frage: Kann Merkel den europäischen Verfassungsvertrag retten? Zwar stehen die Chancen für dessen In-Kraft-Treten derzeit schlecht. Doch es überrascht, dass gerade in Frankreich und den Niederlanden, wo es negative Referenden gegeben hat, heute die höchste Erwartung herrscht, dass die EU zukünftig auf der Basis einer Verfassung regiert wird. Man darf gespannt sein auf Merkels Vorschläge. Es reicht auf keinen Fall, dem Verfassungsvertrag nur einen anderen Namen zu geben. Mit einem solchen Etikettenschwindel wird sie nicht durchkommen.
In der Türkei-Frage hat Merkel die Richtung bereits bei ihrem Besuch in Ankara vorgegeben. Sie steht zu den Verträgen, auch wenn ihr eine privilegierte Partnerschaft lieber ist. Ebenso beharrt sie unmissverständlich darauf, dass die Türkei zu ihren Verpflichtungen steht.
Die Erwartungen sind hoch, aber auch die Chancen, dass Merkels EU-Präsidentschaft als wegweisend anerkannt wird.

Artikel vom 11.10.2006