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Oh, Millie bleibt erst mal bei uns. Ist auch besser so, wo Dan Padgett jetzt weg ist. Mrs. Burbridge und Jagos Freund versuchen, auf dem Festland einen Platz für sie zu finden, wo sie wohnen kann, aber das braucht seine Zeit.«
Die einzigen Gäste, die sich so gut wie nie blicken ließen, waren Miranda Oliver und Dennis Tremlett. Miranda hatte erklärt, sie sei zu beschäftigt, um zum Dinner ins Haus zu kommen. Sie müsse telefonisch mit den Anwälten ihres Vaters und mit seinem Verlag Verschiedenes klären, die Trauerfeier müsse vorbereitet, ihre Hochzeit geplant werden. Kate mutmaßte, dass sie nicht die Einzige war, die sich über Mirandas Abwesenheit freute.

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ur nachts im Bett, kurz vor dem Einschlafen, wurde dieser seltsame, beinahe unnatürliche Frieden schal, wenn sie an Dan Padgett dachte, der in seiner Zelle lag und sich seinen gefährlichen Fantasien hingab. Sie würde ihn im Zuge des Prozesses vor Gericht wieder sehen, doch vorläufig versuchte sie, möglichst nicht an die Morde zu denken. Auf einem ihrer Spaziergänge hatte sie spontan die Kapelle betreten und dort Dalgliesh angetroffen, der auf die Blutflecken starrte.

E
r hatte gesagt: »Mrs. Burbridge hat überlegt, ob sie jemanden bitten soll, den Boden zu schrubben. Letztlich hat sie dann beschlossen, die Tür offen zu lassen und der Zeit und den Elementen die Arbeit zu überlassen. Ich frage mich, ob die Flecken je ganz verschwinden.«


2
Drei Tage bevor er Combe verlassen sollte, beantwortete Dr. Mark Yelland endlich den Brief seiner Frau. Er hatte ihr zwar eine erste Reaktion geschickt, darin jedoch nur gesagt, dass er darüber nachdenken wollte. Seitdem hatte zwischen ihnen Funkstille geherrscht. Jetzt griff er nach seinem Stift und schrieb:

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iese Wochen auf Combe haben mir gezeigt, dass ich Verantwortung übernehmen muss für das Leid, das ich zufüge, sowohl den Tieren als auch dir. Meine Arbeit kann ich rechtfertigen, zumindest mir selbst gegenüber, und ich werde sie weiterführen, koste es, was es wolle. Aber du hast mich geheiratet, nicht meine Arbeit, und deine Entscheidung hat genauso viel Gültigkeit wie meine. Ich hoffe, dass unsere Trennung nicht endgültig ist, doch das liegt bei dir. Wir werden miteinander reden, wenn ich nach Hause komme, und diesmal meine ich es ernst. Wir werden miteinander reden. Was auch immer du beschließt, ich hoffe, dass die Kinder weiterhin wissen, dass sie einen Vater haben, und du einen Freund.

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er Brief war aufgegeben, die Entscheidung getroffen. Er sah sich ein letztes Mal in dem Wohnzimmer um, das ihm jetzt, wo es leer war, plötzlich fremd erschien. Er würde sich den Dingen stellen, denen er sich stellen musste, aber er würde wiederkommen. Er warf sich die Reisetasche über die Schulter und machte sich entschlossen auf den Weg zum Hafen.


3
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m Peregrine Cottage hatte Dennis Tremlett nur zehn Minuten gebraucht, um seine wenigen Kleidungsstücke von den Bügeln zu nehmen und sie akkurat gefaltet in seiner Reisetasche aus Segeltuch zu verstauen. Er zog den Reißverschluss zu und ließ die Tasche in seinem Zimmer stehen, von wo sie zusammen mit dem anderen Gepäck abgeholt und zum Hafen gebracht werden würde. Nachdem Miranda ausgerechnet hatte, wie viel die Rückreise per Zug und Taxi kosten würde, hatte sie einen Wagen bestellt, der sie in Pentworthy abholen sollte.

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m Wohnzimmer kniete Miranda auf dem Boden und verstaute noch immer Olivers Bücher in die kleinen Pappkartons, in denen sie geliefert worden waren. Wortlos nahm Dennis die letzten aus den Regalen und reichte sie ihr. Sie sagte: »Wir werden nicht wieder herkommen.«
»Nein. Das habe ich mir bereits gedacht. Es wäre zu schmerzlich für dich. Zu viele Erinnerungen.« Er fügte hinzu: »Aber sie waren nicht alle schlecht, Darling.«
»Für mich doch. Wir werden in Hotels Urlaub machen, in denen ich mit Vater war. Fünf-Sterne-Hotels. Ich möchte wieder nach San Francisco. In Zukunft wird alles anders. Nächstes Mal wissen die Leute, wer die Rechnung bezahlt.«
Er hatte den Verdacht, dass das den Leuten egal war, Hauptsache, die Rechnung wurde überhaupt bezahlt, aber er wusste, worum es ihr ging. Jetzt würde sie die reiche Hinterbliebene eines berühmten Mannes sein, nicht bloß das überflüssige Anhängsel. Er kniete sich neben sie und sagte impulsiv: »Ich wünschte, wir hätten die Polizei nicht angelogen.«

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ie richtete sich ein wenig auf und starrte ihn an. »Wir haben nicht gelogen. Nicht richtig. Vater hätte gewollt, dass ich ihnen sage, was ich gesagt habe. Er hätte sich schon noch damit arrangiert. Sicher, als er es erfahren hat, war er aufgebracht, aber das war nur der Schock. Er hätte gewollt, dass ich glücklich bin.«
Und wirst du das sein? Werde ich es sein? Die Fragen wurden nicht gestellt, blieben unbeantwortet. Doch es gab noch etwas, das er wissen musste, koste es, was es wolle. »Als wir es erfahren haben, als du begriffen hast, dass er tot ist, gab es da einen Moment, in dem du froh warst, vielleicht nur den Bruchteil einer Sekunde?«

I
n dem Blick, mit dem sie ihn bedachte, konnte er jede flüchtige Gefühlsregung mit entsetzlicher Klarheit benennen: Erstaunen, Entrüstung, Fassungslosigkeit, Trotz. »Wie kannst du so was nur sagen! Natürlich nicht. Er war mein Vater. Er hat mich geliebt, und ich habe ihn geliebt. Ich habe ihm mein ganzes Leben gewidmet. Wie kommst du dazu, so etwas Kränkendes, Furchtbares zu sagen?«
»Genau das war es doch, was deinen Vater interessiert hat. Der Unterschied zwischen dem, was wir meinen empfinden zu müssen, und dem, was wir tatsächlich empfinden.«

S
ie klappte den Kartondeckel zu und stand auf. »Ich weiß nicht, wovon du redest. Hol bitte das Klebeband und die Schere. Ist beides in der kleinen Tasche da. Ich denke, wir sollten die alle zukleben.«
Er sagte: »Er wird mir fehlen.«
»Tja, er wird uns beiden fehlen. Schließlich warst du nur sein Angestellter, ich bin seine Tochter. Aber er war ja nicht mehr jung. Er war achtundsechzig. Er war berühmt. Und es wäre Unsinn, wenn du dir eine andere Arbeit suchen würdest. Du wirst alle Hände voll zu tun haben mit dem Haus, der Hochzeit und der ganzen Post, die wir beantworten müssen. Ruf mal im Büro an und sag Bescheid, dass die Kisten abgeholt werden können. Wir werden selbstverständlich den Wagen brauchen. Mir lag schon auf der Zunge, dass Padgett jetzt kommen könnte. Seltsam, dass er weg ist. Ich werde ihm nie verzeihen. Niemals.«

E
s gab eine letzte Frage, die er nicht zu stellen wagte und die er auch gar nicht stellen musste, weil er die Antwort kannte. Er dachte an die Druckfahnen, deren Ränder mit Olivers akkurater und doch fast unleserlicher Schrift bedeckt gewesen waren, an die sorgfältigen Überarbeitungen, die sein letztes Werk zu einem großartigen Roman gemacht hätten, und er fragte sich, ob er es je schaffen würde, ihr zu vergeben.

E
r starrte auf die kahlen Regale, deren Leere sein eigenes Verlustgefühl verstärkte. Er hätte gern gewusst, was er für Oliver gewesen war. Der Sohn, den er nie hatte? Das war eine arrogante Anmaßung, die er sich erst jetzt erlaubte, da Oliver tot war. Oliver hatte ihn nie wie einen Sohn behandelt. Für ihn war er nie mehr gewesen als ein Diener. Aber spielte das eine Rolle? Gemeinsam hatten sie sich in die tiefsinnigen und geheimnisvollen Abenteuer der Sprache gestürzt. In Gesellschaft von Oliver war er zum Leben erwacht.
Er folgte Miranda zur Tür, blieb stehen, blickte sich ein letztes Mal langsam im Raum um und wusste, dass er hier glücklich gewesen war.


4
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ndlich kam der Tag, an dem sie Combe Island verlassen konnten. Dalgliesh war früh fertig, wartete aber im Seal Cottage, bis der Hubschrauber in Sichtweite war. Dann legte er den Schlüssel auf den Tisch wie einen Talisman, der seine Wiederkehr ermöglichen sollte. Doch Dalgliesh wusste, dass er Combe nie wieder sehen würde. Er zog die Tür hinter sich zu und machte sich auf zum Haupthaus. Auf dem Weg durchlebte er einen Wirrwarr von Gefühlen - Sehnsucht, Hoffnung und Angst. Emma und er hatten in den vergangenen zwei Wochen nur selten miteinander geredet. Er, der er die Sprache liebte, hatte alles Vertrauen in Worte verloren, vor allem wenn sie am Telefon dahingesagt wurden. Die Wahrheit zwischen Liebenden sollte geschrieben werden, um sie in Muße und Einsamkeit abwägen zu können, oder - noch besser - von Angesicht zu Angesicht geäußert werden. Er hatte Emma einmal geschrieben und von Heirat gesprochen, nicht von einer längeren Affäre, und er hatte geglaubt, ihre Antwort erhalten zu haben. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 28.10.2006