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Er hat getan, was von ihm erwartet wurde, Kate.«
»Ich glaube, er hat mehr getan. Mich durch das Fenster zu schieben, dazu gehörte viel Mut.«
»Es gehörte auch viel Mut dazu, das auszuhalten.«
Das genügte ihr. Sie hatte Benton unterschätzt, und jetzt war die Gelegenheit, es wieder gutzumachen. Sie sagte: »Und er hat ein Händchen für Menschen. Mrs. Burbridge war nach Boydes Tod zutiefst verstört. Ich dachte schon, wir würden nichts aus ihr herausbekommen. Benton hat genau die richtigen Worte gefunden, ich nicht. Er hat Menschlichkeit bewiesen.«
Dalgliesh lächelte sie an, und Kate hatte den Eindruck, dass in dem Lächeln mehr lag als nur Anerkennung, mehr als das Kameradschaftsgefühl nach einer erfolgreich abgeschlossenen Arbeit, ja, mehr als Freundschaft. Instinktiv streckte er die Hand nach ihr aus, und sie beugte sich vor und ergriff sie. Es war das erste Mal, dass sie sich berührten, seit Kate sich ihm vor Jahren nach dem Tod ihrer Großmutter von Reue und Trauer geschüttelt in die Arme geworfen hatte.
Er sagte: »Wenn unsere zukünftigen leitenden Beamten keine Menschlichkeit beweisen könnten, stünde es schlimm um uns. Bentons Leistung wird nicht unerwähnt bleiben. Schicken Sie ihn jetzt zu mir, Kate. Ich werde es ihn wissen lassen.«
Commander Dalgliesh stand quälend langsam auf und wahrte die Distanz zwischen ihnen, als er mit ihr Richtung Tür ging, als geleite er einen Ehrengast nach draußen. Auf halbem Weg blieb er schwankend stehen. Sie begleitete ihn zurück zu seinem Sessel, dicht neben ihm, allerdings darauf bedacht, ihn nicht zu stützen.
Er setzte sich wieder und sagte: »Der Fall war kein Erfolg, Kate. Adrian Boyde hätte nicht sterben dürfen.«
Sie war versucht, darauf hinzuweisen, dass sie seine Ermordung nicht hätten verhindern können. Sie hatten keinerlei Beweise gehabt, um Padgett oder sonst wen festnehmen zu können, und sie waren nicht befugt gewesen, die Bewegungsfreiheit der Leute einzuschränken. Außerdem hatten sie zu dritt nicht die Möglichkeit gehabt, sämtliche Verdächtigen rund um die Uhr unauffällig im Auge zu behalten. Doch das alles wusste er ja.
An der Tür drehte sie sich noch einmal um und sagte: »Padgett meint, Boyde wusste, was ihm bevorstand und hätte es verhindern können. Er meint, Boyde wollte sterben.«
Dalgliesh erwiderte: »Ich neige zu der Ansicht, dass Padgett ihn nicht ermordet hätte, wenn er imstande gewesen wäre, Boydes Denken und Fühlen auch nur ansatzweise zu verstehen. Aber wieso bilde ich mir ein, mehr zu wissen? Falls Scheitern uns etwas lehren kann, dann ist es Demut. Geben Sie mir fünf Minuten, Kate, danach soll Benton reinkommen.«


Epilog1
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ie Tage zwischen der Festnahme und dem Ablauf der Quarantäne zählten zu den erstaunlichsten und glücklichsten ihres Lebens. Dessen war sich Kate in jeder Minute bewusst. Manchmal, wenn sie sich daran erinnerte, was sie auf die Insel geführt hatte, überkam sie kurzfristig ein schlechtes Gewissen, weil Trauer und Entsetzen so schnell von dem euphorischen Gefühl, jung und lebendig zu sein, und von einer unerwarteten Freude überdeckt werden konnten. Da einige der Insulaner in der Gerichtsverhandlung als Zeugen würden aussagen müssen, wurde einvernehmlich entschieden, im größeren Kreis nicht über die Morde zu sprechen. Zudem wurde das Team, anscheinend ohne dass es erst beschlossen werden musste, wie VIP-Gäste behandelt, die auf Combe Ruhe und Frieden suchten. Ein anderer Grund für einen Aufenthalt schien auf der Insel nicht vorstellbar.
Still und leise begann Combe, seine geheimnisvollen Kräfte zu entfalten. Benton machte weiterhin das Frühstück, und was er und Kate zum Mittagessen brauchten, holten sie sich aus der Küche. Die übrige Zeit verbrachten sie ganz nach Belieben mal allein, mal in Gesellschaft. Millie hatte ihre Zuneigung von Jago auf Benton verlagert und folgte ihm wie ein kleiner Hund auf Schritt und Tritt. Benton unternahm mit Jago Klettertouren. Wenn Kate einen ihrer einsamen Spaziergänge entlang der Klippe machte, sah sie die beiden manchmal an einer Granitwand kleben.

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ls Dalgliesh wieder gehen konnte, zog er sich ins Seal Cottage zurück. Kate und Benton ließen ihn in Ruhe, aber wenn sie am Cottage vorbeikam, hörte sie manchmal Musik. Er war offenbar viel beschäftigt - Kisten mit Akten von New Scotland Yard wurden regelmäßig per Hubschrauber angeliefert und von Jago zum Cottage gebracht. Kate vermutete, dass Dalglieshs Telefon selten stillstand. Sie hatte ihr eigenes ausgestöpselt und ließ den Frieden von Combe seine heilende Wirkung auf Geist und Körper tun. Piers Tarrant, der frustriert darüber war, nicht durchzukommen, schrieb ihr einen Gratulationsbrief, heiter, liebevoll und leicht ironisch, und sie antwortete mit einer Ansichtskarte. Sie war noch nicht bereit, sich den Problemen ihres Londoner Lebens zu stellen.

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agsüber ging fast jeder seiner eigenen Wege, doch abends versammelte man sich in der Bibliothek zum Aperitif und wechselte dann in den Speisesaal hinüber, um Mrs. Plunketts ausgezeichnete Küche, guten Wein und die Geselligkeit zu genießen. Wenn Kate die lebhaften, vom Kerzenlicht erhellten Gesichter betrachtete, wunderte sie sich oft, dass sie sich so entspannt fühlen konnte, so gesprächig war. Sonst war sie nicht nur während der Arbeit, sondern auch den größten Teil ihrer Freizeit immer nur mit Kollegen zusammen. Polizisten wurden, wie Rattenfänger, als notwendige Begleiterscheinung des menschlichen Zusammenlebens akzeptiert: Sie mussten bei Bedarf sofort verfügbar sein und ernteten gelegentlich auch Lob, aber sie verkehrten nur selten mit Leuten außerhalb ihres gefährlichen Metiers und jeder Kontakt war stets überschattet von Argwohn und Misstrauen. Während der Tage auf Combe atmete Kate freier und ihr Horizont erweiterte sich. Zum ersten Mal spürte sie, dass sie als sie selbst akzeptiert wurde, als Frau, nicht als Detective Inspector. Diese Verwandlung war befreiend und, wie sie sich eingestand, auch schmeichelhaft.
Eines Nachmittags, sie trug mal wieder ihre einzige Seidenbluse, hatte sie in Mrs. Burbridges Nähzimmer erwähnt, dass sie am Abend gern etwas anderes anziehen würde. Sie hatte gerade genug Kleidung zum Wechseln dabei und konnte sich wohl kaum zusätzliche Sachen mit dem Hubschrauber einfliegen lassen. Da hatte Mrs. Burbridge erwidert: »Ich habe hier ein Stück Seide in einem zarten Meergrün, das würde sehr gut zu Ihrem Haar und Ihrem Teint passen, Kate. Wenn Sie möchten, könnte ich Ihnen bis übermorgen eine Bluse daraus schneidern.«
Gesagt, getan, und als Kate die Bluse am Abend erstmals trug, ruhten die Blicke der Männer anerkennend auf ihr, ebenso wie Mrs. Burbridges zufriedenes Lächeln. Amüsiert registrierte sie, dass Mrs. Burbridge bei ihr ein gewisses romantisches Interesse an Rupert Maycroft vermutete und sich offenbar auf ihre unschuldige Art als Kupplerin versuchte.

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ie redseligere Mrs. Plunkett brachte sie auf den neuesten Stand, was die Diskussionen um die Zukunft von Combe anging. »Einige im Stiftungsrat finden, auf der Insel sollte eine Art Ferienheim für arme Kinder entstehen, doch Miss Holcombe ist strikt dagegen. Sie meint, in unserem Land wird schon genug für Kinder getan, und wir könnten ja wohl kaum welche aus Afrika herholen. Mrs. Burbridge hat daraufhin vorgeschlagen, wir könnten doch überarbeitete Geistliche aus der Großstadt aufnehmen, sozusagen in Erinnerung an Adrian. Davon will Miss Holcombe auch nichts wissen. Sie meint, überarbeitete Großstadtgeistliche sind wahrscheinlich jung und ganz versessen auf moderne Gottesdienstformen - Sie wissen schon, mit Banjos und Ukulelen. Miss Holcombe geht zwar nie in die Kirche, aber sie legt großen Wert auf Tradition.«
Kate meinte kurz, einen Anflug von Ironie in Mrs. Plunketts Worten wahrzunehmen. Doch als sie ihr in das arglose Gesicht blickte, hielt sie das für unwahrscheinlich.

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rs. Plunkett erzählte weiter: »Und jetzt schreiben uns frühere Gäste, die sich erkundigen, wann wir wieder aufmachen, daher denke ich, dass es darauf hinauslaufen wird. Es wäre schließlich gar nicht so einfach, den Stiftungsvertrag zu ändern. Jo Staveley meint, Politiker sind so daran gewöhnt, Hunderte von Soldaten in irgendwelche Kriege zu schicken, wo sie umgebracht werden, dass sie sich wegen zwei Toten bestimmt keine grauen Haare wachsen lassen, und ich muss ihr da wirklich Recht geben. Vor kurzem wurde noch gemunkelt, wir sollten uns auf ein paar schrecklich wichtige Besucher vorbereiten und dass die allein kommen würden. Daraus wird jetzt wohl nichts mehr. Ist auch besser so, wenn Sie mich fragen. Dass die Staveleys zurück nach London gehen, haben Sie bestimmt schon gehört? Er wird wieder in seiner Praxis arbeiten. Na, wundern tutÕs mich nicht. Er ist ja jetzt ein richtiger Held, wo doch in allen Zeitungen steht, wie schlau er war, dass er die Diagnose auf SARS so schnell gestellt hat. Schließlich ist es allein ihm zu verdanken, dass keine Epidemie ausgebrochen ist. Er sollte sich hier nicht weiter verkriechen.«
»Und Millie?«


(wird fortgesetzt)

Artikel vom 27.10.2006