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Ich habe an sein stärkstes Gefühl appelliert. Den Hass auf seinen Vater. Und an etwas anderes, das ihm wichtig ist, an das Bedürfnis, jemand zu sein, wichtig zu sein. Ich habe gesagt: ÝWenn Sie Millie töten, wird das niemand verstehen. Sie hat Ihnen nichts getan. Sie ist unschuldig. Sie haben Ihren Vater getötet, und Sie mussten Adrian Boyde töten, das ist nachvollziehbar. Aber nicht Millie. Wenn Sie Genugtuung wollen, dann ist das jetzt Ihre Chance. Er hat Sie und Ihre Mutter Ihr ganzes Leben lang ignoriert und missachtet, und Sie konnten ihm nichts anhaben. Jetzt ja. Jetzt können Sie der Welt zeigen, wie er war. Was er getan hat. Sie werden genauso berühmt werden wie er, und man wird sich genauso lange an Sie erinnern. Wenn man seinen Namen nennt, werden die Leute auch an Sie denken. Wollen Sie das alles einfach wegwerfen, diese echte Gelegenheit zur Rache, nur um ein junges Mädchen in den Tod zu stoßen?Ü«
Kate sagte: »Schlau. Und zynisch.«
»Ja, MaÕam, aber es hat funktioniert.«

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ie wenig sie ihn und diese Mischung aus Skrupellosigkeit und Sensibilität kannte. Sie musste an die Szene vor dem Leuchtturm denken, als seine Hände ihren halb nackten Körper mit Fett eingeschmiert hatten. Ein sehr intimer Moment. Doch was in seinem Kopf vor sich ging, blieb ihr verschlossen. Und nicht nur das. Lebte er allein? Welches Verhältnis hatte er zu seinen Eltern? Hatte er Geschwister? Warum war er Polizist geworden? Sie nahm an, dass er eine Freundin hatte, aber er ließ keinen wirklich an sich heran. Selbst jetzt, wo sie richtige Kollegen geworden waren, blieb er ihr ein Rätsel. Sie fragte: »Und Boyde? Hat er versucht, den Mord an ihm zu rechtfertigen, und wenn ja, wie?«
»Er behauptet, es sei eine spontane Tat gewesen, dass er seine Jacke ausgezogen und den Stein aufgehoben hat, ehe er Boyde in die Kapelle gefolgt ist. Doch damit kommt er nicht durch. Er hatte ja vorsorglich schon die Handschuhe mitgebracht. Die waren bei den restlichen Krankenpflegeutensilien im Cottage seiner Mutter. Er hat erzählt, Boyde kniete gerade, sei dann aber aufgestanden und habe sich zu ihm umgedreht. Er habe nicht versucht zu fliehen oder sich zu wehren. Padgett meint, er wollte sterben.«
Eine Weile schwiegen sie beide. Dann fragte Kate: »Woran denken Sie?«
Das war eigentlich keine ungewöhnliche Frage, Kate stellte sie jedoch selten, weil sie sie aufdringlich fand.
»An eine Zeile von Auden. Wem Böses widerfährt, der begeht Böses.«
»Das ist eine lahme Entschuldigung. Es gibt Millionen uneheliche Kinder, die schlecht behandelt, missachtet und abgelehnt werden. Deshalb werden sie noch lange nicht alle zu Mördern.«

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ie versuchte, Mitleid zu empfinden, und das Einzige, was ihr Verstand aufbieten konnte, war ein Minimum an Verständnis gepaart mit einem Hauch von Verachtung. Sie versuchte, sich Padgetts Leben vorzustellen: die unfähige Mutter, ihrem Traum von einer Liebe verhaftet, die nie mehr gewesen war als eine freudlose Verführung oder, schlimmer noch, eine Vergewaltigung; ein einziger schändlicher Akt, vorsätzlich oder spontan, nachdem sie schwanger, mittellos und heimatlos in die Gewalt einer kleinlichen Sadistin fiel. Kate konnte sich dieses düstere Einfamilienhaus gut vorstellen, die dunkle Diele, das gute Wohnzimmer, in dem es nach Möbelpolitur roch und das immer blitzblank war für den Besuch, der nie kam, das kleine Hinterzimmer, in dem es nach Küche und Trostlosigkeit roch und in dem sich das Familienleben abspielte. Und dann die Schule und die Last der Dankbarkeit, weil irgendein Menschenfreund es genoss, seine Macht auszuspielen, indem er Jahr für Jahr ein paar Almosen bezahlte, um ihn zum Vorzeigeobjekt seiner Wohltätigkeit zu machen. Der Besuch der Gesamtschule hätte ihm besser getan, aber das war natürlich nicht in Frage gekommen. Und dann die Kette beruflicher Misserfolge. Er war von Geburt an ungewollt gewesen und es sein Leben lang geblieben - nur nicht auf Combe. Doch auch hier hatte er unter dem Gefühl gelitten, weniger geschätzt zu sein als die anderen und weniger zu können. Was hätte er tun sollen? Unglück, so dachte Kate, ist ansteckend. Man trägt seinen Geruch mit sich herum wie den Gestank einer gefürchteten Krankheit.

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ennoch war er ein Kind der Siebzigerjahre gewesen, des Jahrzehnts nach den befreienden Sechzigerjahren also. Und doch hörte sich sein Leben an wie ein Albtraum aus ferner Vergangenheit. Schwer vorstellbar, dass es noch immer Menschen wie seine lieblose Tante gab und dass sie solche Macht ausüben konnten. Aber natürlich konnten sie, und sie taten es. Es hätte alles anders kommen können. Eine andere Mutter, intelligent, selbstbewusst, körperlich und psychisch stark, hätte bestimmt für sich selbst und ihr Kind ein eigenes Leben aufbauen können. Tausende schafften das. Hätte ihre eigene Mutter das für sie getan, wenn sie nicht gestorben wäre? Mit quälender Deutlichkeit erinnerte sich Kate an die Worte, die sie einmal von ihrer Großmutter aufgeschnappt hatte, als sie bei ihr in der Londoner Sozialwohnung lebte und nach Hause kam. Ihre Großmutter unterhielt sich gerade mit einer Nachbarin und sagte: »Schlimm genug, dass sie einen Bastard bekommen hat, aber dann stirbt sie auch noch, und an mir bleibt alles hängen.«

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hre Großmutter hätte ihr das nicht ins Gesicht gesagt. Und doch hatte sie von Kindheit an gewusst, dass sie eine Last für die alte Frau war. Erst ganz am Ende war ihr klar geworden, dass es so etwas wie Liebe zwischen ihnen gab. Und sie war den Ellison Fairweather Buildings entkommen, dem Geruch und der Hoffnungslosigkeit und der Angst vor dem langen Weg durch das Treppenhaus, wo auf jeder Etage Gewalt drohte, wenn die Fahrstühle mal wieder demoliert worden waren. Durch harte Arbeit, Ehrgeiz - und natürlich eine gewisse Rücksichtslosigkeit - war sie der Armut und dem Versagen entronnen. Ihrer Vergangenheit hatte sie nicht entfliehen können. Ihre Großmutter musste doch bestimmt irgendwann einmal den Namen ihrer Mutter erwähnt haben, aber sie konnte sich nicht daran erinnern. Kein Mensch wusste, wer ihr Vater war, und das würde immer ein Geheimnis bleiben. Es war, als wäre sie ohne Nabelschnur auf die Welt gekommen, schwebte frei in der Welt, schwerelos, ein Nichts. Noch ihr sozialer Aufstieg, der berufliche Erfolg, war mit Schuldgefühlen behaftet. Hatte sie nicht gerade durch ihre Entscheidung, Polizistin zu werden, das Vertrauen der Menschen enttäuscht - und sogar verraten -, an die sie durch das Zusammengehörigkeitsgefühl der Armen und Besitzlosen unwiderruflich gebunden war?


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o Staveley ließ sich nicht erweichen. Zuerst erkundigte sie sich nach Kates Verletzungen und dann sagte sie: »Im Augenblick hustet er nicht, und wenn, setzen Sie bitte diese Maske auf. Ich kann mir denken, dass Sie ihn sprechen müssen, aber nicht beide zusammen. Der Sergeant muss warten. Commander Dalgliesh hat darauf bestanden, das Bett zu verlassen, also fassen Sie sich möglichst kurz.«
Kate fragte: »Geht es ihm denn schon so gut?«
»Natürlich nicht. Falls Sie irgendeinen Einfluss auf ihn haben, könnten Sie diesem Sturkopf vielleicht klarmachen, dass ich im Krankenzimmer das Sagen habe.« Ihre Stimme war warmherzig und voller Zuneigung.
Kate ging allein hinein. Dalgliesh saß in seinem Bademantel neben dem Bett. Die Sauerstoffschläuche steckten nicht mehr in seiner Nase, aber er trug eine Schutzmaske, und als sie eintrat, hievte er sich mühsam auf die Beine. Kate schossen bei dieser höflichen Geste die Tränen in die Augen. Sie blinzelte sie weg und ließ sich Zeit auf dem Weg zum anderen Stuhl, den Jo in sichere Entfernung gerückt hatte. Sie versuchte, sich nicht allzu steif zu bewegen, damit er nicht merkte, wie schmerzhaft ihre Verletzungen waren.
Seine Stimme wurde durch die Maske gedämpft. »Mit uns beiden ist kein Staat mehr zu machen, was? Wie fühlen Sie sich, Kate? Sie haben eine gebrochene Rippe, hat man mir gesagt. Das tut bestimmt furchtbar weh.«
»Nicht die ganze Zeit, Sir.«
»Und Padgett ist wohl schon von der Insel gebracht worden. Ich hab den Hubschrauber gehört. Wie hat er sich gehalten?«
»Er hat uns keine Schwierigkeiten gemacht. Ich glaube, er ist froh, dass er bald traurige Berühmtheit erlangt. Kann ich Ihnen Bericht erstatten, Sir? Ich meine, fühlen Sie sich gut genug?«
Er sagte freundlich: »Ja, Kate. Ich fühle mich gut. Lassen Sie sich Zeit.«

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ate musste nicht in ihren Notizen nachschlagen. Sie schilderte detailliert, wie sie das Blut und die Haarsträhne im Kühlschrank entdeckt hatten, wie Padgett nach der Jagd Millie mit in den Leuchtturm gerissen hatte und was danach im Einzelnen passiert war. Ihren eigenen Anteil spielte sie weitestgehend herunter. Und nun musste sie etwas über Benton sagen. Aber was? Das Verhalten von Sergeant Benton-Smith war beispielhaft? Wohl kaum. Das klang zu sehr nach einem Eintrag im Schulzeugnis für den Streber aus der vierten Klasse.
Sie stockte, dann sagte sie schlicht: »Ohne Benton hätte ich das nicht geschafft.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 26.10.2006