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Am Ufer des Viktoriasees, ein Grad südlich des Äquators, liegt die Stadt Bukoba. Hier arbeitet Siggi Müller in einem Krankenhaus.

Jenseits von Bielefeld

Siggi Müller arbeitet ehrenamtlich in tansanischer Klinik

Von Alice Koch
Bielefeld (WB). Die Fahrt ging über Land. Staubige Pisten. Rote Erde. Afrikanischer Himmel. Das Ziel war die Hütte eines alten Mannes in einem kleinen Dorf. Schon von weitem war der Gesang der Klageweiber zu hören. Und hinter der Hütte wurde bereits das Grab ausgehoben. Der ganze Ort half mit. Gleich an ihrem ersten Tag lernte Siggi Müller die selbstverständliche Sterbebegleitung einer Dorfgemeinschaft in Tansania kennen. Ein halbes Jahr arbeitet die Bielefelderin ehrenamtlich in einer Klinik nahe der Stadt Bukoba. Denn sie weiß: Hier gibt es Menschen, die Hilfe brauchen.

Eigentlich arbeitet Siggi Müller im stationären Hospiz »Haus Zuversicht« in Bethel. Für sie ist es kein Beruf - es ist eine Berufung. Seit mehr als acht Jahren begleitet die gelernte Altenpflegerin todkranke Menschen auf ihrem letzten Weg. »Meine tägliche Arbeit kann ich nicht mit halbem Herzen machen. Dann ist man nicht gut. Aber es kostet auch Kraft.« Um wieder aufzutanken, entschied sich die 53-Jährige, eine fünfmonatige Auszeit zu nehmen. Dass sie diese nicht in der Karibik oder in einem Golfhotel verbringen würde, stand von Anfang an fest. Ein toskanisches Kloster vielleicht.
Doch dann rückte die Idee in den Vordergrund, die schon einige Jahre zuvor bei einem Urlaub mit Ehemann Norbert in Tansania geboren worden war. Abseits der touristischen Trampelpfade gab es viel Not und Elend. »Hierher kommst du noch mal als anderer Mensch, um zu helfen«, hatte sich die Bielefelderin damals versprochen. Also Afrika - für fast ein halbes Jahr.
Die 53-Jährige nahm Kontakt zu dem tansanischen Krankenhaus in Ndolage nahe der Stadt Bukoba auf, die am Ufer des Viktoriasees ein Grad südlich des Äquators liegt. 1928 war es von der Bethel-Mission als erste Klinik der Region gegründet worden. Heute besteht fast das ganze Dorf aus Gebäuden, in denen Mitarbeiter des Krankenhauses mit ihren Angehörigen leben.
Am vergangenen Freitag brach Siggi Müller nach langen Vorbereitungen schließlich auf. 55 Stunden dauerte die Anreise auf eigene Kosten von Hannover über Amsterdam nach Uganda. Mangels Flugverbindungen ging es in einem völlig überfüllten Bus weiter - acht Stunden lang als einzige Weiße sowie mit vielen Hühnern und anderem Getier. Eine Strapaze, aber eine mit lohnenswertem Ziel.
»Ndolage ist ein Krankenhaus der Nord-West-Diözese der evangelisch-lutherischen Kirche Tansanias mit 260 Betten«, erzählt Siggi Müller. »Allerdings sind die hygienischen und technischen Bedingungen kaum mit deutschen Standards zu vergleichen«, schränkt sie ein. »Ein Operationsbereich ist vorhanden, Medizintechnik ebenfalls, aber nicht jedes Gerät ist funktionstüchtig. Patienten, die sich den Krankenhausaufenthalt leisten können, werden zwar notdürftig medizinisch versorgt, für Essen und Trinken allerdings sind die Angehörigen zuständig. Deswegen gibt es eigene Patientenküchen. Ein Service-Mangel mit Vorteil, denn: »Wirklich niemand muss hier alleine sein. Irgendjemand ist immer bei ihm. Das tut der Seele gut.«
Die Menschen in Bukoba sind arm. Sehr arm. Wer ein Fahrrad besitzt, ist reich. Die anderen gehen zu Fuß. Hauptnahrungsmittel in dem Aids-Krisengebiet sind Kochbananen und Reis. Und auch Polio ist dort noch sehr verbreitet.
Von den gewohnten Selbstverständlichkeiten musste sich Siggi Müller verabschieden und sich dafür mit ungewohnten klimatischen Bedingungen, mit Sand, Staub, Hitze und sprachlichen Barrieren anfreunden. Und Kisuaeli ist für Europäer nicht leicht zu lernen.
In den nächsten fünf Monaten wohnt sie in einem kleinen Haus mit Wellblechdach. Warmes Wasser gibt es nicht. Der in den Wasserfall-Kraftwerken der nahe gelegenen Usambara-Berge gewonnene Strom steht den Mitarbeitern lediglich von acht Uhr abends bis sechs Uhr morgens zur Verfügung. Tagsüber wird alle Energie vom Hospital benötigt. »Abends muss ich mich dann entscheiden, ob ich erst die Herdplatte oder den Wasserkocher anstelle. Beides gleichzeitig funktioniert nicht. Da fliegt sofort die Sicherung raus.«
Ihre Unterkunft kostet einen Euro pro Tag. Für ihre Versorgung in der unbezahlten beruflichen Auszeit in Tansania sorgt sie selbst. Ihr Lohn ist die Arbeit in dem Krankenhaus - und zugleich ihr Geschenk an Afrika, denn es ist ihr tiefer Wunsch, Erfahrungen aus der Palliativ-Pflege (schmerzlindernde Maßnahmen) in die Versorgung der Menschen einfließen zu lassen.
Norbert Müller hat die Pläne seiner Frau unterstützt. Er weiß, wie wichtig es ihr ist, anderen Menschen zu helfen. Natürlich hat er aufgeatmet, als sie sich per Handy aus Ndolage meldete und berichtete, gut angekommen zu sein.
»Vor meiner Abreise habe ich versucht, mir vorzustellen, wie es in Afrika sein wird«, sagt Siggi Müller. »Jetzt weiß ich: Es ist unvorstellbar, wenn man nie dort gewesen ist. Eines ist jetzt schon sicher: Ich werde wohl als ein anderer Mensch zurückkehren . . .«

Artikel vom 07.10.2006