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Vermisstensache Liebs wird zum Mordfall

106 Tage nach Fraukes Verschwinden findet ein Jäger die Leiche der Schwesternschülerin (21) im Wald

Von Christian Althoff
Paderborn (WB). 106 Tage haben Eltern und Geschwister in quälender Ungewissheit gelebt, bis ihre Hoffnung am Mittwochabend gestorben ist. Da überbrachten Polizisten der Familie die Nachricht vom gewaltsamen Tod der 21-jährigen Frauke, die am 20. Juni in Paderborn verschwunden war.

Ein Jäger hatte Mittwoch nach Wildschweinspuren gesucht, als er gegen 18 Uhr im Herbramer Wald, acht Kilometer südöstlich von Paderborn, auf die tote Schwesternschülerin stieß. Sie lag im Unterholz eines Nadelwaldes, nur ein paar Meter von einer Landstraße entfernt. »Da gibt es weit und breit weder Wanderwege noch Häuser. Der Täter hat wohl angenommen, die Leiche werde nie gefunden«, sagte Staatsanwalt Ralf Vetter gestern. Die Tote sei nicht einmal verscharrt gewesen.
Der heiße Juli und Tierfraß hatten dazu geführt, dass nur noch das Skelett der jungen Frau übrig war. »Aber das rote T-Shirt und die blaue Jeans, die Frauke am Tag ihres Verschwindens getragen hatte, waren teilweise erhalten«, sagte Vetter. Auch sei das Gebiss der Toten tadellos - wie Frauke Liebs' Zähne. Vetter hat keinen Zweifel an der Identität der Toten, Gewissheit soll in den kommenden Wochen ein DNA-Abgleich bringen.
Rechtsmediziner der Uni Münster obduzierten das Opfer gestern in Paderborn, konnten aber wegen des skelettierten Zustandes keine Todesursache ermitteln. »Wir gehen davon aus, dass Frauke Liebs am 20. Juni entführt worden ist und sich der Täter mit ihr in den folgenden Tagen im Großraum Paderborn bewegt hat«, erklärte der Staatsanwalt. Wie berichtet hatte die aus Lübbecke stammende Frau am 20. Juni mit Freundinnen in einem Paderborner Pub das WM-Spiel England-Schweden verfolgt und wollte anschließend zu Fuß in ihre nahegelegene Wohnung. Dort ist sie nie angekommen.
»Warum die Frau während ihrer Gefangenschaft die Möglichkeit hatte, ihr Handy zu benutzen, wissen wir noch nicht«, erklärte Hauptkommissar Ralf Östermann, der seit gestern die 15-köpfige »Mordkommission Liebs« leitet. Zwischen dem 21. und dem 27. Juni hatte Frauke ein Telefongespräch mit ihrem Bruder geführt und fünf SMS verschickt, alle Kontakte hatten ihren Ursprung im Raum Paderborn.
Am 27. Juni gab es dann kurz vor Mitternacht noch ein Telefonat, bei dem Fraukes Mitbewohner Chris und ihre Schwester Karen mit ihr sprachen. Fünfeinhalb Minuten dauerte das Gespräch, aus dem die Schwester und der Mitbewohner aber nicht schlau wurden. Verwirrt habe Frauke gewirkt, sagten sie später der Polizei. Es war das letzte Lebenszeichen der Schwesternschülerin. Ralf Östermann: »Wir nehmen an, dass die junge Frau in den folgenden Tagen getötet worden ist und der Täter sie mit einem Auto in den Wald geschafft hat.«
Die Ansatzpunkte für die Mordkommission sind spärlich. In den kommenden Tagen wird die Kleidung der Toten auf Mikrospuren untersucht. Die Tatortbeamten haben außerdem einige Zweige am Fundort abgeschnitten, an denen der Täter Kleiderfasern oder DNA-Material hinterlassen haben könnte. Das Haupthaar, das sich noch an der getöteten Frau befand, wird jetzt toxikologisch analysiert »Dann können wir hoffentlich sagen, ob der Täter sein Opfer unter Drogen gesetzt hat«, sagte Östermann.
Es hatte selten einen Vermisstenfall in Ostwestfalen-Lippe gegeben, bei dem mit so großem Aufwand gesucht worden war. Die Mutter Ingrid Liebs, Oberstudiendirektorin am Städtischen Gymnasium Bad Driburg, und der Vater Klaus, Zahnarzt in Espelkamp, hatten tausende von Flugblättern verteilt, einen Privatdetektiv engagiert und eine Belohnung ausgesetzt. Die Polizei hatte das Foto der jungen Frau bei Public Viewing-Veranstaltungen zur Fußball-WM auf Großleinwänden gezeigt und noch am vergangenen Freitag an einem Beitrag für die ZDF-Sendung »Aktenzeichen XY ungelöst« mitgewirkt.
Trotzdem waren bislang nur 150 Hinweise bei der Kripo Paderborn eingegangen, die alle in Leere geführt hatten. »Jeden dieser Hinweise werden wir uns jetzt noch einmal ganz genau ansehen«, versprach Östermann, auch werde die Mordkommission in den kommenden Tagen den Freundes- und Bekanntenkreis des Opfers erneut befragen. Verschwunden sind bis heute Fraukes Armbanduhr der Marke Fossil (Foto), ihr Handy vom Typ Nokia 6230 sowie eine schwarze Handtasche mit Utensilien wie etwa der EC-Karte.
Die Nachricht vom gewaltsamen Tod der jungen Frau, die am Paderborner St. Vincenz-Krankenhaus eine Krankenpflegeausbildung machte, hat gestern in ihrer Heimatstadt Lübbecke sowie in Paderborn Bestürzung ausgelöst. Die Familie selbst habe gefasst reagiert, sagte Hauptkommissar Ralf Östermann: »Nachdem es seit dem 27. Juni kein Lebenszeichen von Frauke mehr gegeben hatte, waren ihre Eltern und Geschwister seit Wochen innerlich auf das Schlimmste vorbereitet.«

Artikel vom 06.10.2006