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Gesundheitsreform: Das Wort
Durchbruch vermied Merkel

Zweifel am großen Wurf - was die Nacht Patienten und Parteien bringt

Von Basil Wegener
Berlin (dpa). Diesmal vermied Angela Merkel das große Wort vom »Durchbruch«. Als die drei Parteivorsitzenden der Koalition gestern Morgen kurz nach zwei Uhr ihren Gesundheitskompromiss verkündeten, lobte die Kanzlerin nur »ein vertretbares, ein gutes Ergebnis«.
»Die Reform wird das Gesundheitswesen zukunftsweisend umgestalten«: Gesundheitsministerin Ulla Schmidt.

Die vermeintlich bahnbrechenden Reformeckpunkte aus einer denkwürdig langen Julinacht hatten schließlich geradewegs in den bisher heftigsten Krach der großen Koalition geführt. Drei Monate später waren die Parteichefs also bemüht, Sachlichkeit und Zuversicht zu demonstrieren. Doch das Ergebnis des siebenstündigen Ringens konnte die Zweifel an der Gesundheitsreform nicht ausräumen.
Fauler Kompromiss zur Gesichtswahrung - so oder ähnlich lautete die vernichtende Kritik vieler Krankenkassen, Verbände und Oppositionspolitiker, denen die Reform noch nie gefallen hatte. Tatsächlich zimmerten die Spitzen von Union und SPD aus den Eckpunkten und den teils völlig widersprüchlichen Bedenken unter immensem Druck ein in seinen Auswirkungen zunächst schwer durchschaubares Werk aus Detailregelungen.
Die Kanzlerin dürfte sich mit der weitgehenden Bestätigung der Eckpunkte und des Zeitplans zunächst aus ihrer Klemme zwischen Unionsministerpräsidenten und SPD ein gutes Stück befreit haben. CSU-Chef Edmund Stoiber kann für sich in Anspruch nehmen, mit seinem Kurs ohne große Rücksicht auf alte Beschlüsse drohende Verluste der bayerischen Krankenkassen verhindert zu haben. Und SPD-Chef Kurt Beck führte standfest die sozialdemokratische Front gegen eine Aufweichung der Ein-Prozent-Klausel. Doch Federn lassen mussten schließlich doch alle.
Am Tag darauf setzten im Berliner Regierungsviertel die Deutungen ein. Dass sich die Verhandlungen wieder über Stunden hinzogen, lag nach einhelliger Meinung an teils langen Auszeiten im Kanzleramt - Beratungsbedarf bestand in verschiedenen Konstellationen. Zu besonders verknoteten Problemen erreichten die Spitzen auch nach wochenlangen Vorverhandlungen der Fachpolitiker noch neue Vorschläge - etwa zum Rückkehrrecht in die private Krankenversicherung (PKV).
Hier holte die SPD eine Sozialklausel zu Lasten der PKV heraus. Doch die umfassenden Wechselmöglichkeiten innerhalb der PKV und zu den gesetzlichen Kassen, die sich die Sozialdemokraten so sehr gewünscht hatten, bekamen sie nicht. Selbst nach Ablauf einer fünfjährigen Übergangsfrist bleiben die Möglichkeiten, angesparte Altersrückstellungen mitzunehmen, unter den ursprünglichen Hoffnungen.
Dagegen musste sich die Union bei den gesetzlichen Krankenkassen auf einen weit größeren finanziellen Ausgleich einlassen, als sie eigentlich wollte. Vergangene Woche hatte es aus Unionskreisen zu SPD-Vorschlägen noch empört geheißen: »Das hat mit einem Risikostrukturausgleich nichts mehr zu tun.« Zu weitgehend, lautete die Kritik. Nun ist der Ausgleich doch zumindest ziemlich stark geraten.
Für die Patienten ändern sich die Aussichten auch nach dem Kompromiss nicht unmittelbar: Die Beiträge dürften - wie bisher geplant - 2007 um einen halben Prozentpunkt steigen, einige zusätzliche Leistungen soll es künftig auf Kassenkosten geben - und es kann nichts schaden, sich schon mal darauf einzustellen, dass neue Tarife und Hausarztmodelle winken, zwischen denen man sich bald entscheiden muss.
Menschen, die das Interesse an der Reform schon verloren haben, dürften weitergehende Auswirkungen wohl noch kalt lassen. Schließlich geht der Streit darüber seit Wochen eher um schwer fassbare technische Regeln. Ein Reformkritiker aus den Krankenkassen sagte gestern: »Frau Merkel hat ein Interesse daran, das Augenmerk auf die Details zu legen.« Dann, so vermutet er, bleibe im Verborgenen, dass die Reform jetzt grundsätzlich in Frage stehe.
Schließlich verschob die Koalition das Herzstück, den Gesundheitsfonds, um ein halbes Jahr ins Wahljahr 2009. Dafür gab es zunächst technisch-inhaltliche Gründe. Wer aber darauf hofft, dass die grundsätzliche Umstellung auf ein Fondsmodell noch gekippt werden kann, wird nach jetzigem Stand wohl enttäuscht werden: Die Umgestaltung des Krankenkassen-Systems muss schließlich schon weit früher als 2009 vorbereitet werden.

Artikel vom 06.10.2006