06.10.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Karl May wurde freigesprochen

Paderborner Wissenschaftler Sudhoff entdeckte das »Buch der Liebe«

Von Manfred Stienecke
Paderborn (WB). Eine faustdicke Überraschung hält Band 87 der »Gesammelten Werke« für Karl-May-Freunde parat. Der bekannte Abenteuer-Schriftsteller entpuppt sich hier als eine Art Oswald Kolle des 19. Jahrhunderts.
Titel des Buches mit gezeichnetem Sündenfall.

Der in diesen Tagen erschienene jüngste Karl-May-Band »Das Buch der Liebe« führt zurück in die literarischen Anfangsjahre des geistigen Vaters von »Winnetou«, »Old Shatterhand« und »Kara Ben Nemsi«. Das 1876/76 zunächst anonym erschienene und jetzt vom Schmid-Verlag in Bamberg mit einem gezeichneten Titelbild des Sündenfalls auf den Markt geworfene »Aufklärungsbuch« gilt als das Erstlingswerk des Radebeuler Autors. »Entdeckt« und erstmals komplett zusammengestellt wurde das lange verschollene Buch von dem Paderborner Literaturwissenschaftler Dr. Dieter Sudhoff.
May ein Sexualwissenschaftler? Mitnichten. Das von dem späteren Abenteuer-Schriftsteller und Verfasser von Kolportageromanen geschriebene Sachbuch ist auch nach Einschätzung seines Biografen »ein ziemlich dreistes Plagiat«. Das »stellenweise tatsächlich lasziv-erotische, wenn auch keineswegs pornografische Buch« stimme mit Ausnahme einiger Kapitel mit einer bereits fünf Jahre zuvor von einem »Philantropischen Verein« in Berlin herausgegebenen Sittengeschichte überein. Mays Beitrag reduziert sich im wesentlichen auf wenige Kürzungen oder Ergänzungen. Sudhoff: »Er war kühn genug, sich ganz direkt das geistige Eigentum des seinerzeit bedeutendsten und umstrittensten Naturforschers und Evolutionstheoretikers, nämlich des Zoologen Ernst Haeckel, anzueignen.« Fest stehe zudem, dass er das medizinische Werk, das immerhin den Hauptteil ausmache, nicht selbst geschrieben habe.
Das dreiteilige Werk befasst sich mit dem Wesen und der Kulturgeschichte der Liebe und enthält neben einer Abhandlung über Geschlechtskrankheiten auch eine eigenwillige Anschauungsreise durch Freudenhäuser. Die im Kaiserreich als anstößig empfundenen Themenbereiche führten schon bald zu einem vorübergehenden Erscheinungsverbot und bescherten Autor wie Verleger polizeiliche Untersuchungen und einen Prozess. »Da May nachweisen konnte, dass er für das 'Buch der Liebe' selber nichts Unsittliches geschrieben, sondern sogar einige Stellen abgemildert hatte, wurde er freigesprochen«, sagt Sudhoff.
Karl May: »Das Buch der Liebe«, Gesammelte Werke, Band 87, Karl-May-Verlag Bamberg/Radebeul 2006, 568 Seiten, 15.90 Euro.

Artikel vom 06.10.2006