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Das Wort zum Sonntag

Von Pfarrer Hans-Jürgen Feldmann


Laut einer Umfrage des Allensbacher Instituts für Demoskopie glauben neuerdings 56 Prozent der Deutschen an Wunder (FAZ, 20.09.2006). Vor sechs Jahren soll das noch etwa die Hälfte weniger gewesen sein. Woran dieser Gesinnungswandel liegen mag und ob es tatsächlich ein solcher ist, muss allerdings offen bleiben.
Vielleicht hatte man zuvor nur die Fragen etwas anders gestellt und auf diese Weise ein anderes Ergebnis erhalten. Möglicherweise aber hat sich seitdem auch das Gefühl der Verunsicherung verstärkt und einem Wunschdenken nach wundersamer Veränderung Nahrung gegeben. So etwas kommt immer wieder vor. Erinnert sei nur an den Schlager »Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehÕn«. Zarah Leander traf damit in der dunklen Epoche des Kriegsendes noch einen Nerv und nährte eine Illusion.
Grundlegende Neuorientierungen im Glauben benötigen jedoch in der Regel längere Zeiträume als nur wenige Jahre. Immerhin - und das wäre ein Fortschritt an Erkenntnis - fällt auf, dass Wunder nicht mehr so häufig mit einer Durchbrechung von Naturgesetzen in Verbindung gebracht werden wie früher und, weil so etwas als unmöglich gilt, auf Ablehnung stoßen. Denn darum geht es in der Tat nicht. Die Befragten beziehen sich vielmehr auf Erfahrungen aus ihrem eigenen Leben. Diese sind zwar nicht gerade alltäglich, aber ihnen haftet nichts Mysteriöses an, und sie sind auch für jedermann nachvollziehbar.
Der eine denkt dabei an eine Genesung nach schwerer, schon als unheilbar geltender Krankheit, die er an sich selbst oder in seinem Umfeld erlebt hat. Ein anderer erinnert sich daran, wie er vor einem drohenden Unfall bewahrt oder inmitten einer bereits tödlichen Bedrohung gerettet worden ist. Darum ist in diesen Zusammenhängen immer wieder auch von Schutzengeln die Rede. Es kann sich aber ebenfalls um beglückende Ereignisse handeln, die sich völlig unerwartet einstellten.
Das Wunder - das ist sein Wesen - hat mit Sich-Wundern und mit dem Staunen darüber zu tun, dass etwas geschah, das alles andere als selbstverständlich war, das auch ganz anders hätte verlaufen oder ausgehen können. Wer es erlebt, dem gehen ebenfalls die Augen dafür auf, dass er nicht den geringsten Anspruch darauf hatte, eine solche Erfahrung überhaupt machen zu dürfen.
Von dem Erlebnis selbst freilich unterscheidet sich die Deutung, und in ihr unterscheiden sich die Menschen. Wer oder was steckt eigentlich hinter dem Wunder? Für die einen zeigt sich in ihnen Gott in seiner bewahrenden und schenkenden Liebe. Für die anderen ist es der pure Zufall. Letztere könnten auch wohl kaum damit etwas anfangen, dass ihnen jemand erklären wollte, der Zufall sei »nichts anderes als ein Pseudonym (Deckname) unseres Herrgotts«. Das Wunder selbst ist eben nicht eindeutig und lässt verschiedenartige Erklärungen zu.
Dies ist der entscheidende Grund auch dafür, dass Jesus sich beharrlich weigert, seine besondere Stellung und seinen Auftrag durch Wundertaten unter Beweis zu stellen. Diese nämlich wären gar nicht in der Lage, darüber Aufschluss zu geben, in wessen Vollmacht er handelt. Ob es Gott ist oder etwa der Teufel, lassen die Taten von sich aus eben nicht erkennen.
Wohl eher in Ausnahmen führt daher ein Weg vom Wunder zum Glauben. Vielmehr ist es umgekehrt: Erst der Glaube ist in der Lage, in den Ereignissen des Lebens die bewahrende, die führende und schenkende Hand Gottes wahrzunehmen. Der Glaube weiß auch, dass in der Wirklichkeit sehr viel offener Raum ist, in dem Nicht-Geahntes sich begeben, Nicht-Erwartetes eintreten und Nicht-Vorhersehbares aus Gottes Macht entstehen kann. Vor allem traut er Gott zu, dass dieser niemals mit einem Menschen am Ende ist, und bittet ihn um offene Augen für seine Spuren im Leben.

Artikel vom 07.10.2006