16.10.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Rechtsaußen
profitieren: Wenn schon nichts zu essen, dann wenigstens ein wenig Nationalstolz.

Leitartikel
Rechtstrend im Osten

Risse
in der
Fassade


Von Jürgen Liminski
Europa ist mit der Gewaltenteilung in den letzten Jahrhunderten gut zurechtgekommen - solange sie funktionierte. Europarat und Europäische Union haben zudem institutionelle Rahmen geschaffen, in denen die Demokratie sich dauerhaft einrichten konnte. Eine Garantie sind diese supranationalen Rahmen aber nicht.
An der östlichen Peripherie der EU, in Polen, Ungarn, der Slowakei zeigen sich Risse in der demokratischen Fassade. Auch über Rumänien und Bulgarien liegt noch der lange Schatten der Vergangenheit. Die Regierungskrise in Polen spitzt sich weiter zu.
Trotz der Stimmenkauf-Aktionen der Regierung halten die Wähler nach neuesten Umfragen der Regierungspartei die Treue. Ist mit zwielichtigen Methoden im Osten Europas wieder Staat zu machen?
Es steht in der Tat zu befürchten, dass Polen kein Einzelfall ist. Professor Gerhard Besier, Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung in Dresden, hat in seinem Buch über »Das Europa der Diktaturen« im vergangenen Jahrhundert vor solchen Tendenzen schon gewarnt.
Die Sanierung der maroden Systeme dauere den Menschen zu lange, sie seien enttäuscht. Immer häufiger würden Diktatoren in der Rückschau glorifiziert, man vergesse einfach ihre Grausamkeiten, den Mangel an Freiheit und denke an die angebliche Sicherheit und Ordnung, die unter diesen Regimen geherrscht habe. Davon profitierten vor allem rechtsautoritäre, nationalistische Parteien. Wenn schon nichts zu essen, dann wenigstens ein wenig Nationalstolz.
Auch Korruption ist in solchen Situationen symptomatisch. Sie ist ein Indikator für die Schwächung des Systems der Gewaltenteilung, aber sie existiert auch in Kernstaaten Europas, etwa in Italien und sogar in Deutschland. Schwierig wird es, wenn Korruption staatstragend wird, weil andere Gewalten wie Justiz und Presse sie nicht mehr effektiv, sondern nur noch pro forma bekämpfen.
Hier sind die Risse in der demokratischen Fassade am deutlichsten. Wenn die Minderheitenrechte offen diskutiert werden wie neulich in Polen oder das Justizwesen eindeutig hinter den Standards in Europa herhinkt, wie das in manchen neuen Staaten der EU der Fall ist - von Rumänien und Bulgarien ganz zu schweigen -, dann darf man sich nicht wundern, wenn Diktatoren wie Pilsudski oder Benes oder auch Stalin und Mao wieder auf geistigen und realen Sockeln aufgestellt werden. Es rächt sich, dass die EU den kalten Marktstrategen gefolgt und vor der Erweiterung nicht in die Tiefe gegangen ist.
Ihr fehlt das geistige Fundament, die Verfassung, auf die man sich rechtskräftig berufen könnte. Die feierliche Beschwörung eines Erbes nützt nichts, wenn es verschleudert wird. Europa braucht dringender denn je eine Verfassung, die Antwort gibt auf die Fragen unserer Zeit, und zwar aus der Kulturgeschichte des Kontinents heraus. Sonst zerfällt das Gebilde namens EU.

Artikel vom 16.10.2006