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Dann hörte sie seine leise Stimme: »Ziehen Sie sie lieber an, MaÕam. Sie müssen doch eine Verhaftung vornehmen.«
Er half ihr dabei, in die Hose zu steigen, und nach der ersten Treppe musste er sie mehr oder weniger tragen. Treppe für Treppe, Raum für Raum, nur Schemen. Der Aufstieg schien endlos. Schließlich waren sie in der letzten Kammer.
Benton flüsterte: »Gott sei Dank liegt die Tür auf der zur Insel gewandten Seite. Wenn er noch da ist, wo er zuletzt war, hat er uns vielleicht nicht gehört.«

E
ndlich traten sie auf die Galerie hinaus. Das Tageslicht war grell, und Kate lehnte sich einen Moment gegen das Glas der Laterne, geblendet von Licht und Farben, dem Blau des Meeres, dem helleren Himmel mit seinen hoch dahinziehenden Wolken, weißen Rauchfähnchen gleich, und der Insel in vielen Farbschattierungen. Es war fast zu viel für ihre Augen. Sie versuchte, ruhig zu atmen. Es war kein Laut zu hören. Nur noch wenige Schritte, dann würden sie wissen, ob Millie noch lebte. Wenn er sie hinuntergestoßen hätte, wäre ihnen mit Sicherheit der Entsetzensschrei der Männer unten an der großen Leiter nicht entgangen.

K
ate befahl: »Ich gehe vor«, und dann schoben sie sich vorsichtig um die Galerie herum. Da, Padgett hatte sie gehört. Er hielt Millie mit einer Hand fest, mit der anderen umklammerte er verzweifelt die obere Geländerstange. Er drehte sich zu Kate um und warf ihr einen sengenden Blick zu, in dem sie Angst und Hass las, aber auch eine fürchterliche Entschlossenheit. In diesem intensiven Augenblick war aller Schmerz vergessen. Was sie jetzt tat, was sie jetzt sagte, würde über Millies Leben oder Tod entscheiden. Schon wie sie ihn ansprach, konnte falsch sein. Es war wichtig, leise zu reden, doch in dieser Höhe war der Wind unberechenbar. Und er musste sie hören können.
Sie machte einen Schritt auf ihn zu und sagte: »Mr. Padgett, lassen Sie uns reden. Sie wollen Millie doch gar nicht töten, und Sie müssen es auch nicht tun. Es würde Ihnen nichts nützen. Und Sie würden es Ihr Leben lang bereuen. Bitte hören Sie mir zu.«
Millie stöhnte, gab ein leises, zittriges Wimmern von sich, das immer wieder von hellen kurzen Schreien durchbrochen wurde, wie von einem verletzten Kätzchen. Und dann brach ein Wortschwall über Kate herein, ein gefauchter Strom von Obszönitäten, brutal, zotig, voller Hass.
Betons ruhige Stimme drang an ihr Ohr. »Lassen Sie lieber mich mit ihm reden, MaÕam.«

S
ie nickte, und er schob sich an ihr vorbei und weiter am Geländer entlang, selbstsicherer und zielstrebiger, als sie sich das getraut hatte. Sekunden verstrichen. Und als er nah genug war, packte er entschlossen Millies Arm. Er hielt ihn fest und fing an zu reden, sein dunkles Gesicht dicht vor Padgetts. Kate konnte nicht verstehen, was er sagte. Padgett unterbrach ihn nicht, und sie hatte die lächerliche Vorstellung, dass da zwei Bekannte zwanglos und einmütig miteinander plauderten. Nach einer endlos lang erscheinenden Zeit hörte Benton auf zu reden, trat zurück und hob Millie mit beiden Armen über das Geländer. Kate sprang vor, bückte sich und schlang ihren gesunden Arm um das Mädchen. Millie schluchzte heftig, und als Kate über ihren Kopf hinweg aufblickte, sah sie Padgetts Gesicht. Noch immer war es voller Hass, doch da war noch etwas weniger Eindeutiges - Resignation vielleicht, aber auch ein gewisser Triumph. Sie lächelte Benton an, der ihr Millie abnahm, dann richtete sie sich mühsam auf, blickte Padgett in die Augen und verhaftete in mit den dafür vorgeschriebenen Worten.



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S
ie brachten ihn in Bentons Wohnung, wo Benton die Bewachung übernahm. Padgett saß sehr gerade auf einem Stuhl, hielt die Hände in Handschellen zwischen den Knien und starrte ins Leere. Nur wenn Kate im Zimmer war, zeigte er eine Gefühlsregung, starrte sie mit einer Mischung aus Verachtung und Ekel an. Sie ging in ihr eigenes Wohnzimmer und rief zuerst London an, dann das Polizeipräsidium von Devon und Cornwall, um Padgetts Abtransport zu veranlassen. SARS hin oder her, er konnte nicht auf der Insel bleiben. Während sie auf einen Rückruf wartete, konnte sie sich vorstellen, wie jetzt beratschlagt wurde, wie man Risiken einschätzte, die erforderlichen juristischen Schritte besprach. Sie war froh, dass die Entscheidung nicht in ihren Händen lag. Aber Padgett von der Insel zu holen war bestimmt ungefährlich. Er war nicht von Dalgliesh vernommen worden, und weder sie noch Benton zeigten irgendwelche SARS-Symptome. Der Rückruf ließ nicht lange auf sich warten. Padgett sollte abgeholt werden. In fünfundvierzig Minuten würde ein Hubschrauber landen.
Und jetzt ging sie nach oben zu dem Krankenzimmer, wo Dr. Staveley und Jo sie erwarteten. Während Jo sie festhielt, zog Staveley an ihrem Arm, und das Gelenk rutschte wieder zurück in die Pfanne. Sie hatten sie gewarnt, dass es wehtun würde, und sie hatte sich fest vorgenommen, nicht aufzuschreien. Der Schmerz war grausam, ging jedoch schnell vorbei. Das Versorgen der Schürfwunden an beiden Armen und Oberschenkeln war fast ebenso schmerzhaft, dauerte aber länger. Das Atmen tat ihr weh, und Dr. Staveley diagnostizierte eine gebrochene Rippe, die allerdings nicht weiter verarztet wurde, sondern anscheinend von allein heilen würde. Kate war froh über die Geschicklichkeit der beiden. Sie glaubte allerdings, sie hätte die Behandlung leichter ertragen, wenn die Staveleys nicht so fürsorglich und sanft gewesen wären. So musste sie die ganze Zeit gegen die Tränen ankämpfen.

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eim Abtransport von Adrian Boydes Leiche war fast kein Wort gesprochen worden, zunächst waren nur sie selbst und Benton anwesend gewesen, und von den Fenstern aus hatte niemand sie beobachtet. Heute jedoch, als Padgett weggebracht wurde, war alles anders. Staveley und Maycroft standen an der Tür, und Kate spürte aufmerksame Blicke im Rücken. Sie und Benton waren schon von allen Seiten beglückwünscht worden. Inselbewohner und Gäste gleichermaßen machten aus ihrer Euphorie und Erleichterung keinen Hehl. Sie waren von der Last des Verdachtes befreit, ihr Frieden war wiederhergestellt. Nur Dr. Yelland wirkte relativ ungerührt. Die Glückwünsche waren zwar von Herzen gekommen, nichtsdestoweniger gedämpft gewesen. Allen, selbst Millie, schien bewusst zu sein, dass es einen Erfolg zu feiern gab, aber keinen Triumph.
Kate hörte die gemurmelten Worte nur mit halbem Ohr, drückte kurz wohlmeinende Hände, riss sich zusammen, um weiter zu funktionieren und nicht vor Schmerz und Erschöpfung in Tränen auszubrechen. Sie hatte sich von Jo Schmerztabletten geben lassen, diese aber nicht geschluckt, weil sie Angst hatte, danach nicht mehr klar denken zu können. Sie musste AD noch Bericht erstatten. Vorher konnte sie sich nicht entspannen.

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ls der Hubschrauber abgehoben hatte und sie mit Benton zurück ins Apartment ging, fragte sie ihn: »Wie war er so, während Sie ihn bewacht haben?«
»Vollkommen ruhig. Recht zufrieden mit sich. Natürlich auch erleichtert, wie das oft so ist, wenn einer sich nicht mehr vor dem Schlimmsten fürchten muss, weil es eingetreten ist. Ich glaube, er freut sich auf seinen Auftritt im Rampenlicht. Gleichzeitig graut ihm auch irgendwie davor. Er hat noch immer nicht richtig begriffen, was er getan hat. Wahrscheinlich denkt er, sein Triumph sei es wert, dafür ins Gefängnis zu gehen. Schließlich hat er die meiste Zeit seines Lebens in einer Art Gefängnis verbracht, vom Tag der Geburt an abgelehnt und gedemütigt. Diese schreckliche Tante, ihr schwächlicher Mann - sie haben ihn sogar gezwungen, seinen Namen zu ändern. Genau wie seine Mutter. Für die liebe Tante war ÝBellaÜ natürlich indiskutabel.«
»Sie wollte wahrscheinlich nur das Beste für die beiden. Die übliche Entschuldigung. Die Leute meinen es gut und tun das denkbar Schlechteste. Hat Padgett Ihnen erzählt, was passiert ist, als er Oliver zur Rede gestellt hat?«
»Oliver ist nach oben auf die Plattform gegangen, und Padgett ist ihm gefolgt. Er hat sich seine Geschichte von der Seele geredet und dafür bloß Verachtung geerntet. Oliver hat wohl gesagt: ÝWenn Sie noch ein Kind wären, würde ich eine gewisse finanzielle Verantwortung für Sie übernehmen. Etwas anderes hätten Sie von mir ohnehin nicht erwarten können. Aber Sie sind ein erwachsener Mann. Ich schulde Ihnen nichts, und Sie werden auch nichts von mir kriegen. Wenn Sie meinen, ich wollte Sie ein Leben lang am Hals haben, nur weil ich so blöd war, mich mit einem scharfen Schulmädchen zu vergnügen, liegen Sie falsch. Schließlich sind Sie ja wohl kaum der Sohn, auf den ein Mann stolz sein könnte. Mit einem jämmerlichen Erpresser will ich nichts zu tun haben.Ü Das hat den Ausschlag gegeben, Padgett ist auf Oliver los und hat ihn mit beiden Händen an der Gurgel gepackt.«

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ate schwieg kurz, dann sagte sie: »Was haben Sie zu ihm gesagt?« Einen Moment lang war sie wieder oben auf der Galerie, zwang ihren verletzten Körper aufrecht zu stehen, geblendet von den schimmernden Farben von Erde und Meer und Himmel. Sie fügte hinzu: »Oben auf dem Leuchtturm.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 25.10.2006