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Keuchend blieben sie stehen. Als sie wieder sprechen konnte, sagte Kate: »Bringen Sie die Beweismittel in den Safe, und dann holen Sie Jago her. Helfen Sie ihm. Er soll die längste Leiter herbringen, die er hat, und eine kürzere, die an die unteren Fenster heranreicht.«
Benton sagte: »Wenn er sie zur Galerie hochschleppt, ist keine Leiter lang genug.«
»Ich weiß, und ich glaube, das wird er. Dann weiß er so gut wie Sie, dass wir nicht an ihn ran können. Aber es wird ihm Spaß machen, wenn er sieht, wie wir uns vergeblich abmühen. Wir müssen ihn ablenken.«
Benton sprintete sofort los, und jetzt hörte sie Stimmen näher kommen. Anscheinend hatte man vom Haus aus die Verfolgungsjagd beobachtet. Roughtwood und Emily Holcombe erschienen als Erste, dicht gefolgt von Mrs. Burbridge und Mrs. Plunkett.
Emily Holcombe rief: »Was ist los? Wo ist Padgett?«
»Im Leuchtturm, und er hat Millie bei sich.«
Mrs. Burbridge sagte: »Soll das heißen, dass er Adrian ermordet hat?«
Kate sagte nur: »Sie müssen jetzt alle die Ruhe bewahren und tun, was ich sage.«
Plötzlich ertönte ein schriller Schrei, wie das Kreischen einer Möwe, und nur so kurz, dass Kate zunächst die Einzige war, die hochblickte. Dann starrten auch die anderen in die Höhe, und Mrs. Burbridge stöhnte auf, schlug die Hände vors Gesicht und sank zu Boden.
Roughtwood keuchte: »Um Gottes willen!«
Padgett hatte Millie über das Geländer der Galerie gehoben, so dass sie jetzt auf dem äußeren, nur Zentimeter breiten Sims stand, sich am Geländer festklammerte und schrie, während Padgett sie am Arm festhielt. Er rief irgendwas, aber der Wind riss die Worte davon. Langsam begann er, Millie den Sims entlang zur Seeseite des Leuchtturms zu bugsieren. Die kleine Gruppe unten auf dem Boden folgte dem unerträglichen Schauspiel.
Und jetzt war Benton wieder bei ihnen. Keuchend sagte er: »Die Beweise sind im Safe. Jago ist rasch zum Hafen, um die Leitern zu holen. Bei der längeren wird er Hilfe brauchen. Die kann man nur zu zweit tragen.«
Kate rief: »Los, laufen Sie und helfen Sie ihm.«
Die Augen hielt sie weiter auf die beiden Gestalten gerichtet. Millies zarter Körper schien unter Padgetts Zugriff zu erschlaffen. Kate betete: O Gott, bitte, lass sie nicht ohnmächtig werden.

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nd jetzt hörte sie Schritte, das Schaben von Holz, und als sie rasch um den Leuchtturm herumging, schleppten Jago, Benton und Roughtwood gerade die größere Leiter heran. Auch Tremlett war jetzt aufgetaucht und trug eine kleinere hinter ihnen her, sie war höchstens dreieinhalb Meter lang.
Kate suchte Bentons Blick. »Wir müssen dafür sorgen, dass er möglichst ruhig bleibt. Ich glaube, er wird sie nicht ohne Publikum herunterstoßen. Roughtwood und Tremlett sollen die große Leiter gegen die Wand lehnen. Sie sollen ihm mit der Leiter folgen, wenn er sich oben weiter um den Turm herum bewegt. Alle anderen gehen bitte aus dem Weg.«
Sie wandte sich an Jago. »Ich muss da rein. Leider können wir nicht einfach mit dem Wagen gegen die Tür fahren, der ist zu breit. Gibt es irgendwas, das wir als Rammbock benutzen könnten?«
»Nein, MaÕam, ich wüsste nicht. Ich hab auch schon überlegt, was wir nehmen könnten, aber da gibt es nichts.«
Sie drehte sich zu Benton um. »Dann muss ich durch eins der unteren Fenster. Ich denke, das ist machbar.«
Roughtwood und Tremlett trugen die große Leiter um den Leuchtturm herum und versuchten mit Mühe, sie aufzurichten. Einmal rutschte sie von der Wand ab und krachte zu Boden. Kate meinte, Padgetts höhnisches Gelächter zu hören, und hoffte, dass sie sich nicht getäuscht hatte: Sie wollte ihn schließlich ablenken.
Sie bat Benton: »Sie sind der Schnellste. Laufen sie zum Krankenzimmer und suchen Sie Jo Staveley. Ich brauche das größte Glas Vaseline, das sie hat. Meinetwegen auch irgendein anderes Fett, aber wahrscheinlich haben sie Vaseline. Ich brauche jede Menge davon. Und bringen Sie einen Hammer mit.«
Wortlos rannte er davon. Sie eilte zu der kleinen Gruppe, die jetzt schweigend vor der Leuchtturmtür stand.
Maycroft fragte: »Soll ich einen Rettungshubschrauber anfordern?«

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as war genau die Entscheidung, vor der Kate graute. Zweifellos war das eine vernünftige Idee. Niemand würde ihr einen Vorwurf machen, wenn sie angesichts der Unmöglichkeit, in den Leuchtturm zu gelangen, einen Rettungshubschrauber und Verstärkung anfordern würde. Aber war das nicht genau die Art von Publikum, auf die Padgett nur wartete, um sich mit Millie in den Abgrund zu stürzen? Kate wünschte, sie wüsste, was AD an ihrer Stelle tun würde. Sie spürte die Blicke der kleinen Gruppe fragend auf ihrem Gesicht.
Sie sagte: »Noch nicht. Das könnte ihn vielleicht so in Panik versetzen, dass er springt. Wenn er sich entscheidet, sie runterzuwerfen, dann nur, wenn er entweder Publikum hat oder vor Angst nicht weiterweiß.« Sie hob die Stimme: »Die Frauen sollen bitte zurück zum Haus gehen. Padgett darf nicht zu viele Zuschauer haben. Und sagen Sie Dr. Staveley, dass wir ihn hier brauchen, falls er Mr. Dalgliesh allein lassen kann.«
Die kleine Gruppe löste sich auf. Mrs. Plunkett hatte einen Arm um Mrs. Burbridge gelegt, Emily Holcombe ging sehr gerade und hielt sich ein wenig abseits von ihnen.

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nd jetzt kam Benton wieder über den Hügel gelaufen. Er hielt einen Hammer und ein großes Glas Vaseline in den Händen. Kate musterte die Fenster. Weiter oben im Leuchtturm waren es nur schmale Schlitze, aber die näher am Boden waren größer. Benton lehnte die Leiter unter ein Fenster in etwa drei Metern Höhe, das der Tür am nächsten war, und kletterte hinauf. Kate schätzte, dass das Fenster knapp einen Meter hoch und nicht ganz einen halben Meter breit war. Es hatte eine senkrechte Eisenstange in der Mitte und zwei waagerechte Querstangen im unteren Teil.
Benton zertrümmerte die Glasscheiben und hämmerte auf die Eisenstangen ein. Dann rutschte er die Leiter herunter und sagte: »Die sind fest ins Mauerwerk eingelassen, MaÕam. Ist nichts zu machen. Sich zwischen den Stangen durchzuquetschen könnte ganz schön eng werden.«
Kate war schon dabei, ihre Kleidung abzulegen, und behielt nur Schlüpfer, BH, Socken und Schuhe an. Sie öffnete das Vaselineglas und begann, sich den Körper mit der glänzenden Masse einzuschmieren. Benton half ihr. Sie spürte seine Hände nicht, die über sie hinwegglitten, nur die kalten Fettklumpen, die dick auf ihren Schultern, auf Rücken und Hüften verteilt wurden. Dann registrierte sie, dass Guy Staveley da war. Er sagte nichts, und beobachtete sie stumm.
Ohne auf ihn zu achten, sagte Benton zu Kate: »Schade, dass er nicht Sie geschnappt hat, sondern Millie. Die Kleine hätte problemlos da durchgepasst.«
Kate sagte: »Wenn ich geschoben werden muss, dann schieben Sie, um Gottes willen. Ich muss da rein.«

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ie würde mit den Füßen voraus einsteigen, denn sie konnte es nicht riskieren, auf der anderen Seite kopfüber auf den Boden zu stürzen. Sie wusste nicht, wie tief es bis hinunter in die Kammer war, aber die unteren Querstangen würden ihr Halt bieten. Es war schwieriger, als sie gedacht hatte, ihren Körper seitlich in die Öffnung zu bugsieren. Benton stand hinter ihr auf der Leiter und hielt sie mit seinen starken Armen an der Taille fest, nur war ihr Körper jetzt so glitschig, dass er nicht richtig zufassen konnte. Sie stützte sich auf seinen Schultern ab und quetschte sich hindurch. Die Hüften und das weiche Brustgewebe waren kein Problem, doch ihre Schultern verkeilten sich. Sie spürte, dass das Gewicht ihres frei hängenden Körpers nicht ausreichen würde, sie hindurchzuzwingen.
Sie drängte Benton: »Um Himmels willen schieben Sie!«, und spürte seine Hände zuerst auf dem Kopf, dann auf den Schultern. Es tat furchtbar weh, als ihr die Schulter ausgerenkt wurde, ein kurzer und unerträglicher Schmerz, der sie aufschreien ließ. Aber trotzdem brachte sie keuchend hervor: »Schieben Sie weiter, das ist ein Befehl. Fester. Fester.«

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nd plötzlich war sie durch. Instinktiv hielt sie sich mit dem gesunden Arm an der unteren Querstange fest und ließ sich zu Boden gleiten. Sie hatte das fast überwältigende Bedürfnis, einfach liegen zu bleiben. Ihr linker Arm war nutzlos, die Schmerzen der gerissenen Muskeln und aufgeschürften Haut kaum auszuhalten. Taumelnd kam sie auf die Beine, stolperte die kurze Treppe hinunter in die untere Kammer und zur Tür. Sobald sie mühsam den schweren Riegel zurückgeschoben hatte, drängte Benton herein, gefolgt von Staveley.
Staveley fragte: »Kann ich irgendwas tun?«
Benton antwortete: »Noch nicht, Doktor. Aber halten Sie sich bereit.«
Staveley sah Kate an. »Kommen Sie zurecht, schaffen Sie es die Treppe hoch?«
»Ich muss. Nein, bleiben Sie hier. Überlassen Sie das uns.«
Benton hielt ihr Hose und Jacke hin, wollte möglichst schnell nach oben. Sie versuchte, die Arme in die Jacke zu schieben, schaffte es aber nicht ohne Bentons Hilfe. Sie stöhnte: »Gehen wir, die Hose bleibt hier. Ich sehe schicklich genug aus.«

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 24.10.2006