23.10.2006
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Benton sagte: »Ich dachte, es wäre ganz gut, wenn ich den Roman lese und hab ihn mir gestern Abend aus der Bibliothek ausgeliehen. Die haben da gebundene Ausgaben sämtlicher Oliver-Bücher. Heute früh gegen zwei hatte ich ihn aus. Es geht da unter anderem um die Vergewaltigung einer Sechzehnjährigen namens Donna auf einer Klassenfahrt. Erzählerisch ist das wunderbar gemacht. Er schafft es, gleichzeitig beide Perspektiven zu zeigen, die des Mannes und des Mädchens, ihre Emotionen so zu verschmelzen, wie ich das noch nie in einem Roman erlebt habe. Technisch genial.«
Kate sagte: »Verschonen Sie mich mit literarischen Finessen. Auf gehtÕs. Fangen wir mit dem Brotofen da am Kamin an. Da könnte er ein oder zwei Steine gelockert haben.«
Die Eisentür des Ofens war geschlossen, das Innere finster. Benton holte eine Taschenlampe aus Kates Spurensicherungskoffer und leuchtete mit dem kräftigen Lichtstrahl in das leere Innere.
»Kontrollieren Sie, ob irgendwelche Steine locker sind.«
B
Benton sagte: »Ich frage mich, warum er die wohl versteckt hat.«
»Weil es als Belastungsmaterial gegen ihn verwendet werden kann. Nachdem er Oliver getötet hatte, bedeutete seine Verwandtschaft mit ihm keine mögliche Einnahmequelle mehr, sondern eine Gefahr. Das ist schon absurd, nicht? Wenn seine Tante nicht darauf bestanden hätte, dass Padgett und seine Mutter ihren jeweils zweiten Vornamen benutzten, dann wäre sie Bella gerufen worden. Ich frage mich, ob das Oliver nicht an irgendwas erinnert hätte. Ist da sonst noch was drin?«
»Nein, MaÕam. Ich werde eben noch die anderen Steine überprüfen.«
Die weitere Suche förderte jedoch nichts mehr zutage. Sie schoben die Geburtsurkunden in einen Beweismittelbeutel und gingen in die Küche. Kate stellte ihren Koffer auf die Arbeitsplatte neben der Spüle und Benton legte seine Kamera daneben.
Kate sprach leise, als hätte sie Angst, belauscht zu werden. »Fangen wir mit dem Kühlschrank an. Vielleicht denkt Padgett ja, dass das Blut kühl aufbewahrt werden muss.«
Bentons Stimme tönte selbstbewusst und kräftig wie immer. »Muss Blut denn frisch sein, um DNA zu gewinnen, MaÕam?«
»Das müsste ich eigentlich wissen. Ich habÕs vergessen. Wahrscheinlich nicht, aber er könnte das glauben.«
S
Benton blätterte mit einem Finger durch das Papier. »Er hat die letzten Schätze seiner Mutter zerstört und Olivers Taschenbuch. Die Hinterlassenschaften der beiden Menschen, die er für sein gescheitertes Leben verantwortlich macht: seine Mutter und Nathan Oliver.«
Der Kühlschrank war baugleich mit dem in Kates Küche. Er enthielt eine Butterdose, einen Liter fettarme Milch und ein halbes Vollkornbrot. Von diesen Lebensmitteln abgesehen, schien die Küche seit Wochen nicht mehr benutzt worden zu sein. Bestimmt hatte Padgett nach dem Tod seiner Mutter nicht selbst gekocht, sondern die Hauptmahlzeiten mit dem übrigen Personal im Speisesaal eingenommen. Sie öffneten auch das kleine Gefrierfach. Es war leer. Kate nahm das abgepackte Brot heraus. Es waren noch acht Scheiben übrig, die recht frisch wirkten, und sie klappte sie auseinander, um sich zu vergewissern, dass nichts dazwischen steckte.
S
Während sie weiter auf die Butter starrte, hörte sie wie Schubladen rasch geöffnet und wieder geschlossen wurden, und dann war Benton neben ihr und reichte ihr einen Fleischspieß. Behutsam stach sie in die Butter. Der Spieß ging nur knapp zwei Zentimeter tief hinein.
Die Aufregung in ihrer Stimme war unüberhörbar: »Da ist was drin. Ab jetzt müssen wir Fotos machen - Kühlschrank, Butterdose.«
K
Benton lächelte. »Wahrscheinlich gab es noch ein Begleitschreiben, in dem Dr. Staveley angegeben hat, welche Tests gemacht werden sollten, aber das brauchte Padgett ja nicht. Das Etikett wird uns auch genügen. Name und Datum sind mit der Hand geschrieben, also können wir die Probe eindeutig identifizieren.«
S
Keiner von ihnen konnte später sagen, wieso sie das Gesicht, das ganz kurz am Küchenfenster auftauchte, überhaupt bemerkten. Kein Geräusch war zu hören. Es konnte nicht mehr gewesen sein als eine fast unmerkliche Veränderung der Lichtintensität. Es war wieder verschwunden, ehe sie mehr erkennen konnten als ein entsetztes Augenpaar und einen geschorenen Kopf.
Benton fluchte, und sie stürmten beide zur Tür. Sie war abgeschlossen. Kate hatte den Schlüsselbund, aber sie brauchte drei Sekunden, ehe sie den richtigen gefunden hatte. Sie verfluchte sich selbst dafür, dass sie ihn nicht einfach im Schlüsselloch gelassen hatte. Als sie ihn jetzt hineinstecken wollte, merkte sie, dass es nicht ging. »Er hat das Schloss mit seinem eigenen Schlüssel von außen blockiert.«
B
Kate rief: »Verfolgen Sie ihn. Sie sind schneller. Ich kümmere mich um die Beweise und die Kamera.«
Benton hatte gar nicht mehr richtig hingehört. Er war sofort durch das Fenster nach draußen gesprungen. Kate holte schnell die Kamera und ihren Spurensicherungskoffer, lief zum Fenster zurück und schwang sich ebenfalls hindurch.
Padgett lief Richtung Meer, und Benton holte allmählich auf, aber die dreißig oder vierzig Sekunden Verzögerung hatten genügt. Padgett war so gut wie außer Sicht, als just in diesem Moment Jago um die Ecke des Haupthauses bog. Padgett und Jago stießen zusammen und beide stürzten zu Boden. Ehe der benommene Jago aufstehen konnte, war Padgett schon wieder auf den Beinen. Er lief weiter Richtung Leuchtturm. Benton war jetzt nur noch knapp dreißig Meter hinter ihm. Als Kate oben auf dem Hügel ankam, sah sie mit Entsetzen, dass sie zu spät waren. Und dann fiel ihr Blick auf etwas noch Schlimmeres: Millie kam um den Leuchtturm herumspaziert. Eine Sekunde lang schien die Zeit stillzustehen. Kate sah die beiden rennenden Gestalten, sah, wie Millie stocksteif stehen blieb, die Augen verwundert aufgerissen, als Padgett sie packte und durch die Tür in den Leuchtturm zog. Als zuerst Benton und dann sie die Tür nur wenige Sekunden später erreichten, hörten sie Millie schreien und dann, wie der Riegel von innen vorgeschoben wurde.
Artikel vom 23.10.2006