03.10.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Eingriff ins Uhrwerk des Lebens

US-Amerikaner Mello und Fire erhalten den Medizin-Nobelpreis

Von Thilo Resenhoeft
Stockholm/Hamburg (dpa). Am 19. Februar 1998 legten Craig Mello und Andrew Fire ihren Kollegen ein neues feinmechanisches Werkzeug in den genetischen Experimentierkasten. Ihr Artikel im Journal »Nature« zeigte einen Weg, wie sich künftig beliebige Erbanlagen stumm schalten lassen.
Andrew Fire erhält den Medizin-Nobelpreis.

Beifall und Anerkennung haben Fire und Mello seither zuhauf erhalten. Nur acht Jahre später bekommen sie für ihren filigranen Eingriff ins Uhrwerk des Lebens nun die höchste Auszeichnung ihres Faches, den Medizin-Nobelpreis. Der Anruf aus Stockholm kam nicht unerwartet: Hinter der Würdigung steht die in den vergangenen Jahren gewachsene Hoffnung auf vollends neue Hilfen gegen Viren, Krebs und viele weitere Krankheiten.
Die US-Forscher setzen an, wo das Genomprojekt endete: Das Entziffern der Erbanlagen war pure Fleißarbeit für rastlose Roboter, aber welche Aufgaben übernimmt jedes der 30  000 Gene des Menschen? Und wie lässt sich dieses Wissen Gewinn bringend nutzen? Die RNA-Interferenz (RNAi) beantwortet genau diese Fragen.
Wie die Rädchen in einem mechanischen Uhrwerk greifen hunderte Proteine einer Zelle ineinander, damit das Herz schlägt, sich Zellen teilen oder Infektionen bekämpft werden. Fällt in einer Uhr eines der Zahnräder aus, kann daraufhin entweder der Sekundenzeiger, der Kalender oder gleich das ganze Uhrwerk stehen bleiben - je nach Position des Rädchens. In der Zelle ist es ähnlich: Wer wissen will, welche Rolle ein Protein spielt, schaltet es mit der RNAi gezielt aus und blickt auf die resultierenden Störungen im Räderwerk des Lebens.
Das funktioniert auch umgekehrt: Wer ein defektes Protein kennt, kann es mit der RNAi gezielt ausschalten. Sowohl in menschlichen als auch in tierischen Zellen ist das bereits mehrfach gelungen. In Versuchstieren ließ sich ein Gen für hohe Cholesterinwerte stummschalten.
Auch Viren - darunter der Aidserreger HIV - bringen meist RNA mit in die infizierte Zelle und lassen sich, wie andere Erreger, im Reagenzglas bereits bekämpfen. Bei Mäusen gelang es zudem, die Symptome der Erbkrankheit Chorea Huntington (»Veitstanz«) deutlich abzumildern. Dafür wurde im Hirn der kranken Tiere jenes Gen stummgeschaltet, das für die fortschreitende Zerstörung der Nervenzellen verantwortlich ist.
Von diesen wichtigen Aussichten abgesehen regeln viele Zellen auch natürlicherweise die Aktivität ihrer Gene mit diesem Mechanismus - das ergab die Arbeit der folgenden Jahre. »Mellos und Fires Arbeit zeigt uns, dass wir in Fragen der Gen-Steuerung vielleicht noch vor etlichen Überraschungen stehen - wo wir vorher dachten, wir wissen eigentlich alles«, sagte Hans Jörnvall, zuständiger Sprecher des Nobelkomitees.
2002 war das Verfahren für das bedeutende Journal »Science« bereits die wichtigste Entdeckung des Jahres. Auch der Paul-Ehrlich-Preis 2006 - die höchste deutsche Auszeichnung für Medizin - ging an die beiden Forscher. Der Nobelpreis kommt vergleichsweise früh: Ähnlich schnell ging es zum Beispiel bei der Entdeckung der Prionen (1997/Medizin) und der Polymerase-Kettenreaktion (1993/Chemie) zur raschen Vermehrung der DNA. Meist müssen Forscher viele Jahre warten, bis sie ausgezeichnet werden.
»Auch das kommerzielle Potenzial dieser Entdeckung ist wie alles in der Molekularbiologie enorm. Ich glaube schon, dass sich Craig und Fire eine ganze Reihe interessanter Patente gesichert haben«, ergänzte Jörnvall. Viele Unternehmen bieten heute standardisierte Verfahren und Dienstleistungen rund um RNAi an, die bereits zum Lehrbuchwissen gehört.
Weil die RNAi ein universelles Werkzeug ist, gibt es bereits viele Pläne, damit Herzkrankheiten, Krebs oder Stoffwechselstörungen zu bekämpfen.

Artikel vom 03.10.2006