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Eine Möwe mit leuchtendem Schnabel hatte sich auf dem Rand niedergelassen, hockte reglos in ihrer glänzenden, weißgrauen Vollkommenheit da und spähte über die Klippe, offenbar ohne den verschwitzten Eindringling nur einen halben Meter unter ihr zu bemerken. Dann hob sie in einem Wirbel aus peitschender Luft ab, und er spürte ihre weißen Flügel über seinen Kopf hinweggleiten, bevor er sie sah. Er wusste, dass oben an der Spalte bereits ein Kletterhaken angebracht war. Der würde ihn tragen müssen, falls er den Halt verlor. Er fand den Haken, hängte ein Ende einer langen Schlinge ein, rief »Seil spannen!« und spürte, wie sich das Seil straffte. Er sah nach unten, nutzte die Spannung im Seil als Gegengewicht und schob die rechte Hand über das Dach, um nach einem Griff an der Wand darüber zu suchen. Nach dreißig hektisch tastenden Sekunden entdeckte er ihn, dann auch einen für die linke Hand. Er schwang in der Luft, zog sich mit den Händen hoch, fand Tritte für die Füße und balancierte sich aus. Er schob eine weitere Schlinge über einen kleinen Felsvorsprung und hängte sich ein. Er war in Sicherheit.

U
nd jetzt war überhaupt keine Angst mehr in ihm, nur noch eine längst vergessene Freude. Der Rest der Tour war steil, aber der Fels war sauber und bot bis ganz nach oben gute Haltemöglichkeiten. Er hievte sich über den Klippenrand und blieb einen Moment lang erschöpft liegen. Der Duft von Erde und Gras war wie ein Segen, und er spürte den Sand körnig an den Lippen. Er rappelte sich hoch und sah Kate auf ihn zukommen. Als er in ihr vor Erleichterung strahlendes Gesicht blickte, musste er den lächerlichen Impuls unterdrücken, sich in ihre Arme zu werfen.
Sie sagte: »Glückwunsch, Benton«, und wandte sich dann ab, als fürchtete sie, er könnte ihr anmerken, welche Spuren die Anspannung der letzten halben Stunde bei ihr hinterlassen hatte.
Er ging zu dem nächsten großen Felsbrocken, bereitete die Sicherung für Jago vor, hängte das Seil ein, nahm es fest in beide Hände und rief nach unten: »Sie können losklettern.«

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ate, das wusste er, hatte sich um die Sicherung des Beweises gekümmert, während Jago unten war. Der Stein und die Reste des zerfetzten Latexhandschuhs waren bereits in einem weiteren Beweismittelbeutel versiegelt. Und nun lag Jagos Leben in seinen Händen. Ein vertrautes Gefühl der Begeisterung durchfuhr ihn, wie ein Adrenalinstoß. Beim Klettern ging es um dreierlei: die Gefahr, der man sich gemeinsam stellte, die gegenseitige Abhängigkeit, die Kameradschaft.
Mit erstaunlicher Geschwindigkeit war Jago bei ihnen, holte die Seile ein, wickelte sie auf und packte die Ausrüstung zusammen. »Gut gemacht, Sergeant«, lobte er Benton.
Und als er mit der Ausrüstung zum Wagen ging, blieb er plötzlich stehen, drehte sich um und streckte Benton die Hand hin. Benton schüttelte sie. Keiner sagte etwas. Sie warfen die Ausrüstung hinten in den Wagen und stiegen ein. Kate setzte sich hinters Steuer, ließ den Motor an und fuhr zum Haus zurück. Benton betrachtete ihr Gesicht und sah in einem Moment verblüffter Erkenntnis, dass man Kate durchaus schön nennen konnte.


7
Den ganzen Dienstag über war Kate mit den Gedanken immer wieder bei Dalgliesh in dem Krankenzimmer oben im Turm. Sie musste sich mühsam beherrschen, dass sie nicht Guy oder Jo Staveley anrief, um sich nach ihm zu erkundigen. Dabei war ihr klar, dass diese sie sofort anrufen würden, wenn es irgendwas zu berichten gab. In der Zwischenzeit mussten sie ihre Arbeit tun und Kate ihre.
Mrs. Burbridge, die sich von der Gefahr durch einen noch nicht gefassten Mörder und eine potentiell tödliche Krankheit abzulenken suchte, indem sie ihren häuslichen Pflichten nachging, erkundigte sich, was sie zum Abendessen wünschten und ob es zum Seal Cottage gebracht werden sollte. Der Gedanke war Kate unerträglich. Sich an den Tisch zu setzen, an dem Dalgliesh gesessen hatte, seinen Regenmantel im Vorraum hängen zu sehen, seine Abwesenheit stärker zu spüren als seine Anwesenheit, das wäre für sie, als ob sie das Haus eines Toten beträte. Ihre Wohnung im Stallgebäude war klein, doch sie würde genügen. Außerdem wollte sie unbedingt nahe beim Haus bleiben und Benton gleich nebenan wissen. Nicht nur weil es praktisch war - sie gestand sich ein, dass es sie beruhigen würde, ihn in der Nähe zu haben. Und mit dieser Erkenntnis kam ihr eine weitere: Er war ihr Kollege geworden und ihr Partner. Sie teilte ihm ihren Entschluss mit.
Benton sagte: »Wenn es Ihnen recht ist, MaÕam, könnte ich meinen Sessel und was wir sonst noch brauchen in Ihr Wohnzimmer schaffen. Dann könnten wir Ihre Wohnung als Besprechungsraum nutzen und meine für die Mahlzeiten. Ich kann ein leckeres Frühstück machen. Und wir haben beide einen kleinen Kühlschrank, wo mindestens Milch reinpasst, dann könnten wir uns Kaffee kochen, falls wir noch spät arbeiten müssen. Die übrigen Räume im Stallgebäude haben übrigens keinen Kühlschrank. Die Angestellten müssen sich alles, was sie brauchen, aus dem großen im Essraum für das Personal holen. Ich habe mit Mrs. Plunkett gesprochen, und sie kann uns etwas Salat und kalten Braten rüberschicken, oder wir holen uns die Sachen ab. Wäre Ihnen ein Uhr recht?«
Kate war nicht hungrig, aber Benton offenbar, und der Lunch, den er schließlich holte, war wirklich ausgezeichnet. Zum Salat und dem kalten Lammbraten gab es Folienkartoffeln und hinterher Obstsalat. Zu ihrer eigenen Verblüffung griff Kate tüchtig zu. Anschließend setzten sie sich zusammen und besprachen die nächsten Schritte.
Kate sagte: »Wir müssen Prioritäten festlegen. Ich schlage vor, wir schränken als Erstes die Zahl der Verdächtigen ein, zumindest nach dem augenblicklichen Stand der Dinge. Jo Staveley hätte Boyde nicht umgebracht, denke ich, und ihr Mann oder Jago auch nicht. Wir gehen schon länger davon aus, dass Mrs. Burbridge, Mrs. Plunkett und Millie nicht in Frage kommen. Damit bleiben also Dennis Tremlett, Miranda Oliver, Emily Holcombe, Roughtwood, Dan Padgett und Mark Yelland. Eigentlich müssten wir auch Rupert Maycroft mit einbeziehen, aber den lassen wir vorläufig mal weg.«

B
enton ergänzte: »Wir halten eigentlich auch Yelland für unverdächtig, MaÕam, oder lassen ihn zumindest außen vor, doch er hat kein Alibi, und er hatte genauso wie alle anderen auf der Insel einen guten Grund, Oliver zu hassen. Außerdem fände ich es etwas voreilig, Jago auszuschließen. Und dann ist da ja noch Dr. Speidel. Für den ersten Mord haben wir nur seine Aussage.«
Kate sagte: »Konzentrieren wir uns zunächst auf Tremlett, Roughtwood, Padgett und Yelland. Alle vier hatten etwas gegen Oliver, aber was die ersten drei betrifft, stellt sich allerdings wieder dieselbe Frage: Warum ihn erst an diesem Wochenende töten? Und Sie haben Recht, was Dr. Speidel betrifft. Wir müssen ihn noch einmal vernehmen, sobald er wieder gesund ist. Das kann etwas dauern.«

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ann gingen sie die schriftlichen Aussagen durch. Wie erwartet hatte außer den Staveleys, die mit Rupert Maycroft und Adrian Boyde im Haus zu Abend gegessen hatten, niemand zugegeben, nach neun Uhr auf der Landzunge gewesen zu sein. Boyde hatte sich in der Bibliothek zu den Staveleys und Maycroft gesellt, um wie immer vor dem Essen seinen obligatorischen Tomatensaft zu trinken. Er hatte zurückhaltend und geistesabwesend gewirkt, doch das hatte niemanden verwundert. Olivers Tod hatte ihn wohl mehr erschüttert als alle anderen. Boyde war nur bis zum Hauptgang geblieben und hatte sich kurz vor halb neun verabschiedet, wie sie schätzten. Die Staveleys und Maycroft hatte noch in der Bibliothek einen Kaffee getrunken, und dann waren die Staveleys durch die Vordertür zu ihrem Cottage gegangen. Den genauen Zeitpunkt wussten sie nicht mehr, meinten aber, es müsse so gegen halb zehn gewesen sein.
Kate seufzte: »Morgen vernehmen wir sie alle einzeln, vielleicht holen wir ja doch noch mehr aus ihnen raus. Wir müssen die angegebenen Zeiten abgleichen.«
Andere Entscheidungen zu treffen erwies sich dagegen als schwieriger. Sollten sie die Verdächtigen auffordern, die Kleidung abzugeben, die sie am Vorabend getragen hatten, um die Sachen mit ins Labor zu schicken, wenn Boydes Leiche und die anderen Beweisstücke abgeholt wurden?

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enton schien ihr Dilemma zu spüren. »MaÕam, ich finde, es macht wenig Sinn, Kleidungsstücke einzusammeln, solange wir keinen Hauptverdächtigen haben. Wer garantiert uns, dass sie uns auch wirklich die Sachen geben, die sie anhatten? Da müssten wir schon die komplette Garderobe einfordern. Außerdem könnte sich Calcraft komplett umgezogen haben. Er hatte ja keinen Grund zur Eile, sondern die ganze Nacht Zeit, um nach der Tat alles sauber zu machen.«
»Auf der Badezimmerarmatur und in der Dusche von Chapel Cottage könnten Fingerabdrücke sein. Bis die Spurensicherung hier ist, falls sie überhaupt kommt, können wir nichts weiter tun, als das Haus zu sichern und die Beweise zu schützen. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 18.10.2006