16.10.2006
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Kate seufzte: »Auch gut. Wir müssen die Untersuchung des Tatorts alleine durchführen, und wenn irgend möglich will ich diesen Stein haben. Die Flut kommt, hoffentlich haben wir nicht zu viel Zeit vertan.«
Benton sagte: »Nicht vertan, MaÕam. Wir mussten mit allen auf der Insel sprechen und für ihre Sicherheit sorgen. Und wir brauchten Mrs. Burbridges Aussage. Wenn Boyde ihr gesagt hätte, wo er noch hinwollte, wäre der Fall vielleicht schon gelöst. Wir zwei können auf uns gestellt eben nicht alles auf einmal machen. Und die Flut hat noch nicht wieder ihren Höchststand erreicht.«
»Sie haben Recht.« Und nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: »Gute Arbeit vorhin, Sergeant. Sie haben bei Mrs. Burbridge genau die richtigen Worte gefunden, um sie zu trösten.«
»Ich bin religiös erzogen worden, MaÕam. Manchmal ist das ganz nützlich.«
Sie betrachtete sein dunkles, attraktives Gesicht. Es war so teilnahmslos wie eine Maske. Sie lächelte. »Und jetzt rufen Sie Jago an und sagen ihm, dass er uns mit dem Wagen abholen und die Kletterausrüstung mitbringen soll. Ohne ihn schaffen wir das mit der Klippe nicht. Jemand muss ihn im Harbour Cottage ablösen, ich würde vorschlagen Maycroft.«
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»Wir haben keine andere Wahl. AD hat gesagt, dass er Jago nicht für den Täter hält, und bis jetzt hat er sich noch nie getäuscht.«
Dann war Jago bei ihnen. Er und Benton beluden den Wagen mit der Kletterausrüstung, und Kate setzte sich ans Steuer. Während sie über die Landzunge holperten, sprach keiner von ihnen ein Wort. Benton wusste, dass Kate die Küste in unmittelbarer Umgebung des Tatorts absuchen wollte, und wirklich, rund zwanzig Meter vor der Kapelle hielt sie an.
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Noch immer sagte Jago kein Wort. Kate rutschte zwischen Büschen und Felsbrocken hinunter zur unteren Klippe und ging dann, gefolgt von den anderen, auf dem schmalen Plateau entlang, bis ihr ein Blick nach oben zeigte, dass sie sich unterhalb der Kapelle befanden. Sie traten an den Rand und schauten nach unten. Das Granitgestein, an manchen Stellen zerfurcht, an anderen glatt wie poliertes Silber, fiel etwa fünfundzwanzig Meter senkrecht zum Meer ab und wurde nur von kleinen Vorsprüngen unterbrochen, die aussahen wie Hängekörbe. In den Felsritzen sprossen Grün und Büschel kleiner weißer Blumen. Am Fuß der Klippe erstreckte sich eine Bucht ohne jeden Sandstrand, nur gewaltige Steine und Felsbrocken, die sich bis zur Granitwand auftürmten. Die Flut stieg rasch.
Kate fragte Jago: »Kommt man da irgendwie runter? Oder ist das zu schwierig?«
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»Gibt es denn keine andere Möglichkeit, nach unten in die Bucht zu gelangen?«
Jago sagte: »Gehen Sie ein Stück weiter und überzeugen Sie sich selbst, Inspector. Die Bucht ist immer abgeschnitten, selbst bei Ebbe.«
»Und um die Landzunge rumzuschwimmen ist auch unmöglich?«
Jagos Gesicht sprach Bände. Er zuckte die Achseln. »Wenn Sie sich unbedingt in Stücke schneiden lassen wollen É Die Felsen unter Wasser sind scharf wie Rasierklingen.«
B
»Etwa dreißig Meter südlich der Kapelle gibt es eine. Das ist der einzige Aufstieg, und keiner für Anfänger. Was war Ihre bisher schwierigste Klettertour?«
»Tatra an der Küste von Dorset. Das ist in der Nähe von St. AnselmÕs Head.« Benton dachte: Und frag mich um Gottes willen nicht, wann das war.
Jetzt blickte ihm Jago zum ersten Mal ins Gesicht: »Sind Sie der Enkel von Hugh Benton-Smith?«
»Ja.«
Nach kurzem Schweigen nickte Jago. »Okay, bringen wirÕs hinter uns. Sie müssen mir mit der Ausrüstung helfen. Wir haben nicht viel Zeit.«
S
Jago ließ die Seile auf den Boden fallen. »Ziehen Sie lieber Ihre Jacke aus. Die Schuhe sind ganz gut. Probieren Sie einen von den Helmen. Der mit dem roten Abzeichen ist meiner.«
Die Felsbrocken waren hier größer und die untere Klippe schmaler, als sie es irgendwo sonst auf der Insel gesehen hatten. Jago setzte seinen Helm auf, suchte sich dann rasch einen Felsen aus, nahm drei breite Bänder, schlang sie um den Felsen und sicherte sie mit einem Karabiner.
Benton beobachtete, wie Jago den schweren Metallhaken zuschraubte, und ihm kam der Gedanke, dass ihm das Wort Karabiner bestimmt seit über zehn Jahren nicht mehr auf der Zunge gelegen hatte. Und die Bänder wurden Flachbänder genannt, wie ihm jetzt wieder einfiel.
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Für Benton blieb die Zeit stehen, geriet dann einen beängstigenden Augenblick lang ins Trudeln und hakte sich an einer Erinnerung fest. Er war wieder vierzehn und stand neben seinem Großvater oben auf der Klippe in Dorset. Sein Großvater, den er immer nur Hugh genannt hatte, war im Zweiten Weltkrieg ein hoch dekorierter Kampfflieger gewesen und hatte sich nach den turbulenten Jahren nie mehr richtig an eine erdgebundene Welt gewöhnt, in der er nach dem Tod seiner besten Freunde ein nur widerwilliger, von vagen Schuldgefühlen geplagter Überlebender war. Schon als Halbwüchsiger hatte Benton, der seinen Großvater liebte und stets um dessen Anerkennung bemüht war, ansatzweise geahnt, welchen Kummer und welche Scham die harte Schale und der leicht spöttische Ton verbargen. Hugh war ein leidenschaftlicher Kletterer gewesen und hatte in dem Niemandsland zwischen Luft und Felsen mehr gesehen als nur eine sportliche Freizeitbeschäftigung, wie sein Enkelsohn wusste. Der junge Francis hatte diese Leidenschaft unbedingt mit ihm teilen wollen und geahnt, dass sein Großvater ihn im Grunde lehrte, der eigenen Angst Herr zu werden.
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Ja, Hugh. Ich bin bereit.
Doch was er jetzt hörte, war Jagos Stimme. »Die Wand hat Schwierigkeitsgrad sechs. Wenn sie Tatra gegangen sind, dürfte das kein Problem für Sie sein. Okay?«
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Er sah Jago an und sagte: »Ich bin bereit.«
Dann zog er seine Jacke aus, und durch den dünnen Wollpullover spürte er den eisigen Wind wie einen kalten Umschlag auf der Haut.
Artikel vom 16.10.2006