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In ihren Augen war er ein Mann, dem sie sich unter dem Schutz des Beichtgeheimnisses öffnen konnte. Und dann? Hatte Boyde sie davon überzeugt, dass Dan ein Recht darauf hatte, die Wahrheit zu erfahren? Boyde war schließlich durch das Beichtgeheimnis gebunden. Wahrscheinlich hatte er Martha klargemacht, ihr Sohn müsse es aus ihrem Mund erfahren, dass der Mann, den er hasste, sein Vater war.

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nd genau deshalb war Martha Padgett in den letzten Monaten ihres Lebens so darauf erpicht gewesen, nach Combe zu kommen. Sie und Dan waren im Juni 2003 eingetroffen. Im April desselben Jahres hatte Oliver in einem vielfach abgedruckten Presseinterview gesagt, dass er Combe Island regelmäßig besuchte, und damit eine Vereinbarung mit dem Stiftungsrat gebrochen, nach der alle Informationen über die Insel vertraulich waren. Hatte Martha Padgett gehofft, dass ihr Sohn und sein Vater sich irgendwie kennen lernen und eine Beziehung zueinander entwickeln würden? Dass sie Oliver am Ende sogar dazu bringen könnte, seinen Sohn anzuerkennen? Mit diesem unbedachten Presseinterview hatte Oliver die nahezu unaufhaltsame Kette von Ereignissen ausgelöst, die zu zwei Morden geführt hatte. Warum hatte Martha nicht früher die Initiative ergriffen, warum hatte sie jahrelang geschwiegen? Oliver war ein berühmter Mann. Es konnte ihr schwerlich verborgen geblieben sein, wo er sich aufhielt. Zum Zeitpunkt von Dans Geburt waren DNA-Tests jedoch noch unbekannt. Hatte Oliver seiner Geliebten erklärt, dass er nicht bereit sei, das Kind anzuerkennen? Sie hatte es nicht beweisen können und hatte ihr Leben lang an ihre Machtlosigkeit geglaubt. Erst in den letzten Jahren war sie dann gleich mit zwei neuen Tatsachen konfrontiert worden: zunächst mit dem Wissen, dass es DNA-Tests gab, und viel später mit der Erkenntnis, dass sie todkrank war. Es hatte etwas zu bedeuten, dass sie nur eines von Olivers Büchern besaß, es dafür offensichtlich mehrfach gelesen hatte. War das der Roman, in dem er eine Verführung schilderte, vielleicht sogar eine Vergewaltigung? Ihre Verführung, ihre Vergewaltigung?
Nach dem Mord an Oliver musste Boyde gewiss Padgett verdächtigt haben. Er konnte nicht preisgeben, was ihm als Beichtvater anvertraut worden war, doch die belastende Tatsache, dass am Samstagmorgen im Puffin Cottage niemand anzutreffen war, hätte er der Polizei erzählen können. Warum hatte er nicht geredet? Hatte er es für seine Pflicht als Geistlicher gehalten, Padgett zu einem Geständnis zu bringen, seine Seele zu retten? Hatte er das Selbstvertrauen oder vielleicht sogar die Arroganz eines Mannes gehabt, der es gewohnt war, eine einzigartige, spirituelle Macht auszuüben? War er am Montagabend zum Puffin Cottage gegangen, um einen letzten Versuch zu unternehmen, und war das der Auslöser für seine Ermordung gewesen? Hatte er es geahnt? Hatte er es vielleicht sogar vorausgesehen? War er deshalb anstatt in sein Cottage zur Kapelle gegangen, weil er gemerkt hatte, dass ihm in der Dunkelheit Schritte folgten?
Ein Puzzleteilchen nach dem anderen fand seinen Platz. Mrs. Plunketts Worte: Er hat ihr die Haare fast ausgerissen, und ich hab den Ausdruck in seinem Gesicht gesehen, der war weiß Gott alles andere als liebevoll. Natürlich hatte er ihr die Haarsträhne nicht abgeschnitten. Man hatte ihm offensichtlich gesagt, dass man für DNA-Tests die Wurzeln braucht. Und möglicherweise hatte er der Mutter gegenüber Groll oder gar Hass empfunden, die ihn durch ihr Schweigen zu einer Kindheit voller Elend und Demütigungen verurteilt hatte. Bei der Untersuchung waren sie davon ausgegangen, dass der Mord an Oliver eine spontane, nicht vorsätzliche Tat gewesen sei. Falls jemand Speidels Nachricht an Oliver verändert hätte, dann wäre das Treffen nicht nur um dreißig Minuten vorverlegt worden, sondern gleich auf eine wesentlich günstigere Uhrzeit. Padgett musste Oliver gesehen haben, vielleicht vom oberen Fenster des Cottage aus, wie er zielstrebig auf den Leuchtturm zusteuerte. Hatte er das als die Gelegenheit betrachtet, Oliver endlich mit der Tatsache seiner Vaterschaft zu konfrontieren, ihm zu sagen, dass er Beweise hatte, und von Oliver finanzielle Zuwendungen zu fordern? Gründete sich seine Hoffnung auf eine bessere Zukunft genau darauf? In welchem Gefühlschaos aus Hoffnung, Wut und Entschlossenheit musste er sich spontan auf den kurzen, gut verborgenen Weg entlang der unteren Klippe gemacht haben? Und dann die Konfrontation, der Kampf, der tödliche Klammergriff um Olivers Hals, der glücklose Versuch, Mord wie Selbstmord aussehen zu lassen.

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algliesh hatte ganz ruhig dagelegen, doch jetzt trat Jo rasch an sein Bett. Sie fühlte ihm die Stirn. Er hatte geglaubt, so etwas machten Krankenschwestern nur in Büchern und Filmen, aber die Berührung von Jos kühler Hand war wohltuend.

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ie sagte: »Sie sind wirklich ein untypischer Fall, Commander. Können Sie sich denn nicht einmal an die Vorschriften halten? Ihr Fieber hüpft rauf und runter wie ein Jojo.«
Er blickte sie an und fand seine Stimme wieder. »Ich muss Kate Miskin sprechen. Es ist sehr wichtig. Ich muss sie sehen.«

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rgendwie war es ihm wohl trotz seiner Schwäche gelungen, ihr die Dringlichkeit bewusst zu machen. Sie sagte nämlich: »Was sein muss, muss sein. Es ist erst fünf Uhr morgens. Kann das nicht wenigstens warten, bis es hell ist? Lassen Sie die Gute doch noch ein wenig schlafen.«
Nein, es konnte nicht warten. Er wurde von Ängsten gequält, die, wie er wusste, zwar nicht ganz rational waren, die er aber nicht abschütteln konnte: der Husten könnte zurückkommen, es könnte ihm plötzlich wieder so schlecht gehen, dass sie Kate nicht zu ihm lassen würden; er könnte nicht mehr in der Lage sein zu sprechen, er könnte sogar vergessen, was ihm jetzt so vollkommen klar war. Und eines war noch klarer als alles andere. Kate und Benton mussten das Röhrchen mit Blut und die Strähne von Martha Padgetts Haar finden. Der Fall machte zwar jetzt Sinn, aber sie hatten bislang nichts in der Hand außer Mutmaßungen, keine handfesten Indizien. Motiv und Möglichkeit zur Tat allein reichten nicht aus. Padgett hatte Grund gehabt, Oliver zu hassen, was praktisch für jeden auf der Insel galt. Padgett konnte ungesehen zum Leuchtturm gelangt sein, die anderen ebenso. Ohne das Blut und die Haare würde der Fall vielleicht nie vor Gericht kommen.
Immerhin hielt Mrs. Burbridge es sogar für möglich, dass Oliver sozusagen bei einem Selbstversuch verunglückt war. Es gab genug Hinweise darauf, dass dem Mann so etwas durchaus zuzutrauen gewesen wäre. Dr. Glenister würde aussagen, dass Oliver sich die Blutergüsse am Hals nicht selbst beigebracht haben konnte, und angesichts ihrer Reputation würde dieser Aussage Gewicht beigemessen. Doch die Post-mortem-Untersuchung von Blutergüssen war umstritten, vor allem wenn der Tod schon vor längerer Zeit eingetreten war. Die Verteidigung würde forensische Pathologen aufrufen, die eine ganz andere Ansicht vertraten.
Dalgliesh sagte: »Bitte. Ich muss sie sofort sprechen.«

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och vor Tagesanbruch mit der Durchsuchung von Puffin Cottage zu beginnen, würde zu wilden Spekulationen führen und möglicherweise auch zu Störungen. Da es in allen Cottages dunkel war, würde eines, in dem Licht brannte, auffallen wie ein Leuchtfeuer. Padgett durfte auf keinen Fall merken, dass sein Cottage durchsucht wurde. Sollten sich die Beweise nicht im Cottage befinden, würde das verräterische Licht ihm Gelegenheit geben, das Blut und die Haare noch besser zu verstecken oder gar zu vernichten. Nie zuvor waren die frühen Morgenstunden für Kate und Benton so quälend langsam vergangen.

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ls der richtige Zeitpunkt gekommen war, schlichen sie sich still und heimlich aus Kates Wohnung und huschten wie zwei Verschwörer über die Landzunge. Die Tür zum Puffin Cottage war abgeschlossen, aber die Schlüssel an dem Bund, das Maycroft ihnen gegeben hatte, waren beschriftet. Als Benton die Tür leise hinter ihnen ins Schloss zog und wieder versperrte, spürte Kate ein vertrautes Gefühl leichter Beklommenheit in sich aufsteigen. Was jetzt kam, hatte sie an ihrem Beruf von Anfang an als unangenehm empfunden. Sie hatte in all den Jahren weiß Gott viele Durchsuchungen vorgenommen, von stinkenden Bruchbuden bis hin zu sündhaft teuren, piekfeinen Wohnungen, und immer hatte sie dieses irrationale Schuldgefühl befallen, als stünde sie selbst unter Verdacht. Am stärksten jedoch war der Widerwille, die Privatsphäre der Opfer zu verletzen, zwischen den oft anrührenden Hinterlassenschaften der Toten herumzuschnüffeln wie ein wollüstiger Triebtäter. Doch an diesem Morgen war jeder Skrupel schnell verflogen und machte einer Euphorie der Wut und Hoffnung Platz. Bei dem Gedanken an Boydes zerstörtes Gesicht hätte sie das Cottage gern mit bloßen Händen in seine Einzelteile zerlegt.
Die Räume verströmten immer noch eine Atmosphäre trister Durchschnittlichkeit, und da die Vorhänge geschlossen waren, wirkten sie so düster wie es einem Trauerhaus angemessen war.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 21.10.2006