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Sagen Sie ihm, ich habe gefunden, was er sich gedacht hatte, und es ins Labor geschickt.«
Jo nickte, offensichtlich nicht weiter interessiert: »Ja, ich richte es ihm aus.«
Kate konnte sonst nichts tun, und ihr fiel auch nichts mehr ein, was sie hätte sagen können. Jetzt musste sie Emma ein zweites Mal anrufen. Sie konnte ihr erzählen, dass AD ruhig schlief. Das war gut und würde ihr bestimmt ein wenig Trost bringen. Aber für Kate, die wieder hinaus in die Dunkelheit trat, gab es keinen.


8
A
m Mittwochmorgen erwachte Kate um fünf Uhr nach einer unruhigen Nacht. Sie starrte in die Dunkelheit und überlegte, ob sie sich herumrollen und versuchen sollte, noch ein paar Stunden Schlaf zu bekommen, oder ob sie sich geschlagen geben, aufstehen und Tee kochen sollte. Sie machte sich auf einen frustrierenden und enttäuschenden Tag gefasst. Ihre Euphorie über den Fund des Steines war geschwunden. Vielleicht konnte der forensische Biologe eindeutig bestätigen, dass das Blut von Boyde stammte, aber was brachte ihnen das, wenn der Fingerabdruckexperte keine Abdrücke an dem Stein oder den Handschuhfetzen fand? Im Labor wurde ihr Fall absolut vorrangig behandelt, aber Kate machte sich keine Illusionen. Bestimmt stammten die Blutflecken auf dem Chorrock ausschließlich von Boyde. Dieser Mörder war gewieft.
Sie konnte bloß Mutmaßungen anstellen. Von den vier Verdächtigen, auf die sie und Benton sich im Augenblick konzentrierten, hätten Roughtwood und Padgett am leichtesten über die untere Klippe zum Leuchtturm gelangen können. Tremlett in den Stallungen hinter dem Haus hätte diesen Vorteil nicht gehabt. Allerdings war er der Verdächtige, der am ehesten Dr. Speidels Brief hätte lesen können. Möglicherweise hatte er beobachtet, wie Oliver das Cottage früh morgens verließ, und war ihm gefolgt, wohl wissend, dass er schnell würde handeln müssen, sobald sie im Leuchtturm waren, dass aber kaum die Gefahr der Entdeckung bestand. Er hätte die Tür von innen verriegeln und darauf vertrauen können, dass genau das geschah, was dann auch passiert war: Als Speidel merkte, dass er den Turm nicht betreten konnte, war er wieder gegangen.

K
ate wälzte sich unruhig hin und her, während sie die wichtigsten Schritte für den kommenden Tag zurechtlegte und dabei mit nahezu überwältigender Gewissheit wusste, dass sie scheitern würde. Sie trug die Verantwortung. Sie würde AD und Benton und auch sich selbst enttäuschen. Und in London hatte Harkness bestimmt mit der Polizei von Devon und Cornwall erörtert, wie man sie auf Combe Island unterstützen konnte, ohne die Beamten einem Infektionsrisiko auszusetzen. Er könnte sogar mit dem Innenministerium besprochen haben, ob es ratsam war, die gesamte Ermittlung an die örtliche Polizei zu übergeben. Er hatte gesagt, er würde ihr bis Freitagabend Zeit geben. Das hieß, sie hatte nur noch zweieinhalb Tage.
Sie stieg aus dem Bett und griff nach ihrem Morgenmantel. Da klingelte das Telefon.
Sekunden später war sie unten im Wohnzimmer und hörte die Stimme von Jo Staveley: »Tut mir Leid, dass ich Sie so früh wecke, Inspector, aber Ihr Boss will Sie sprechen. Kommen Sie schnell. Er sagt, es sei dringend.«


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I
n Dalglieshs letzten unzusammenhängenden Erinnerungen an den Dienstagmorgen waren da körperlose Hände, die ihn zum Geländewagen führten, dann wurde er unter einem plötzlich sengend heißen Himmel holpernd über die Insel gefahren, er sah eine Gestalt mit Schutzmaske und in einem weißen Kittel, die ihm ins Bett half, und spürte die wohltuende Kühle der Bettdecke an seinem Körper. Er konnte sich an beruhigende Stimmen erinnern, aber nicht an einzelne Worte, und an seine eigene Stimme, die ihnen sagte, dass er unbedingt auf der Insel bleiben musste. Es war wichtig gewesen, dass diese geheimnisvollen, weiß gekleideten Fremden, die offenbar über sein Leben bestimmten, das auch wirklich verstanden. Sie mussten begreifen, dass er Combe nicht verlassen durfte. Wie sollte Emma ihn denn finden, wenn er in dieses beängstigende Nichts verschwand? Es gab noch einen anderen Grund, warum er nicht wegkonnte, und der hatte irgendwas mit einem Leuchtturm zu tun und mit einem Auftrag, der noch nicht abgeschlossen war.
In der Nacht war sein Kopf wieder etwas klarer, doch er fühlte sich noch schwächer. Es fiel ihm schwer, den Kopf auf den Kissen zu bewegen. Den ganzen Tag über hatte ihn ein Husten gequält, bei dem sich die gesamte Muskulatur in seinem Oberkörper verkrampfte, so dass er kaum Luft bekam. Die Abstände zwischen den Anfällen wurden kürzer, die Symptome schlimmer, bis Guy Staveley und Jo am Dienstagnachmittag geschäftig an seinem Bett hantierten und ihm Schläuche in die Nasenlöcher eingeführt hatten und er Sauerstoff einatmete. Jetzt lag er ruhig da, spürte den Schmerz in den Gliedern, die Hitze des Fiebers, war aber Gott sei Dank frei von den ärgsten Hustenanfällen. Er hatte keine Ahnung, welcher Tag oder wie spät es war. Dalgliesh versuchte, den Kopf zu drehen, um auf die Uhr neben dem Bett zu schauen, doch selbst diese kleine Anstrengung war ihm zu viel. Es musste Nacht sein, dachte er, oder vielleicht früher Morgen.

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as Bett stand im rechten Winkel zu den hohen Fenstern. So war es auch in dem Zimmer nebenan, erinnerte er sich, in dem er Olivers Leiche gesehen hatte. Und da konnte er sich an jedes Detail der Szene erinnern und wusste plötzlich auch wieder, was danach geschehen war. Er lag in der Dunkelheit gefangen, die Augen auf zwei helle Felder an der Wand gerichtet, die sich bei genauerem Hinsehen in zwei hohe Fenster mit Sternen darin verwandelten. Unter den Fenstern konnte er einen Sessel erkennen und eine Frau, die in einem weißen Kittel und mit einem Mundschutz vor dem Gesicht zurückgelehnt dasaß, als schlummere sie. Er erinnerte sich, dass sie oder jemand wie sie bei ihm gewesen war, jedes Mal, wenn er aufgewacht war. Und jetzt wusste er, dass es Jo Staveley war. Er lag ganz still da, versuchte an nichts zu denken und genoss die kurze Erlösung von dem quälenden Schmerz in der Brust.

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uf einmal wusste er ohne jedes Gefühl von plötzlicher Eingebung oder Erleichterung, dafür aber mit absoluter Gewissheit die Lösung des Rätsels. Es war, als würden in seinem Kopf die Holzteilchen eines dreidimensionalen Puzzles wild durcheinander wirbeln und sich dann wie von allein zu einer perfekten Kugel zusammensetzen. Die Wahrheit offenbarte sich ihm in Gesprächsfetzen, und er hörte die Stimmen so laut, als sprächen sie ihm direkt ins Ohr. Mrs. Plunkett in ihrer Küche: Ich hätte eher gedacht, dass er in der Kajüte hocken bleibt. Richtig Angst hat er gehabt. Dr. Speidels Stimme mit der präzisen Aussprache: Ich wusste, dass Nathan Oliver vierteljährlich zu Besuch kam. Das stand im April 2003 in einem Zeitungsartikel über ihn. Millies hohe junge Stimme, die ihre Begegnung mit Oliver beschrieb, als hätte sie den Text auswendig gelernt, und seine eigene Stimme, die sagte: Doch das war in einem andern Land, und außerdem: das Weib ist tot. Padgett, der den Rauch aus dem Schornstein von Peregrine Cottage aufsteigen sah. Das eine Taschenbuch von Nathan Oliver zwischen den Liebesromanen im Puffin Cottage.

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ie hatten den Fall alle aus einem falschen Blickwinkel betrachtet. Entscheidend war nicht, wer seit Olivers letztem Besuch nach Combe Island gekommen war und wessen Eintreffen den Mord ausgelöst hatte, entscheidend war, wer Combe verlassen hatte. Keiner von ihnen hatte an jene hilflose Sterbende gedacht, die schließlich im Sarg von der Insel gebracht worden war. Und die Blutprobe, die Padgett hatte über Bord fallen lassen, war das ein Unfall oder Absicht gewesen? In Wahrheit war die Blutprobe gar nicht verloren gegangen - sie war nie in dem Beutel gewesen. Dan Padgett hatte lediglich alte Schuhe, Handtaschen und Bibliotheksbücher ins Meer fallen lassen. Diese beiden vermeintlich irrelevanten Ereignisse, Martha Padgetts Tod und die Sache mit der Blutprobe, waren die entscheidenden Puzzleteilchen. Und Padgett hatte sogar die Wahrheit gesagt, zumindest teilweise, als er ihnen erzählte, dass er kurz vor acht Uhr den Schornstein von Peregrine Cottage rauchen gesehen hatte. Ja, er hatte den Rauch bemerkt, aber nicht von seinem Fenster aus, sondern von der Plattform des Leuchtturms. Im Dämmerlicht des Krankenzimmers sah Dalgliesh erneut Boydes schmerzerfüllte Augen vor sich, die ihn glauben machen wollten, dass er bei seinem Spaziergang über die Landzunge am Samstagmorgen niemandem begegnet war. Aber es gab jemanden, dem er hatte begegnen wollen. Er war am Puffin Cottage gewesen, um mit Padgett zu sprechen - und hatte Padgett nicht angetroffen.

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n einem hatten sie Recht gehabt: Das Motiv für den Mord war jüngeren Datums. Vor ihrem Tod hatte Martha Padgett dem einzigen Menschen, dem sie absolut vertrauen konnte, ihr großes Geheimnis verraten: Dan war Nathan Olivers Sohn. Sie hatte es Adrian Boyde erzählt, der mitgeholfen hatte, sie zu pflegen, und den nur sie und Mrs. Burbridge als Priester betrachtet hatten.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 20.10.2006