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Ich wünschte fast, es wäre wie früher, vor unserer Zeit, als die Ermittlungsbeamten alles Notwendige in ihren Spurensicherungskoffern hatten und die Fingerabdrücke einfach selbst genommen haben. Wir werden die Handtücher im Badezimmer eintüten und auf DNA-Spuren untersuchen lassen, und wir müssen die Pappschachtel, in der der Chorrock war, mit ins Labor schicken. So große Beweismittelbeutel haben wir gar nicht. Wir müssen uns einen Plastiksack aus dem Haus besorgen. Wir fragen Mr. Maycroft, nicht Mrs. Burbridge.«
Es wurde halb vier, bis der Hubschrauber eintraf. Sobald er gelandet war, schlossen sie Bentons Wohnung auf und rollten die Trage heraus. Sie hatten Boydes Leichnam mit einem Laken bedeckt, das den Chorrock verbarg, obwohl sie davon ausgingen, dass Mrs. Burbridge den anderen davon erzählt hatte. Kate wünschte, sie hätte sie um Verschwiegenheit gebeten. Das war ein Fehler gewesen, und es war vermutlich zu spät, ihn zu korrigieren. Millie würde sich nach dem Chorrock erkundigen, wenn sie das nächste Mal ins Nähzimmer ging, und von Millie Diskretion zu erwarten war hoffnungslos. Sie hatten Boyde Handschuhe übergestreift, um eventuelle Spuren unter seinen Fingernägeln zu schützen, doch sonst hatten sie die Leiche nicht weiter angetastet. Sie blieben Seite an Seite in einigem Abstand stehen und sahen zu, wie Gestalten mit Schutzmasken den Toten in einen Leichensack hüllten, den Reißverschluss zuzogen und ihn zusammen mit den Beweismitteln an Bord brachten.

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as Haus hinter ihnen lag vollkommen still da, und sie hatten nicht einmal das Gefühl, von den Fenstern aus beobachtet zu werden - ein eigenartiger Gegensatz zu der Betriebsamkeit, als alle ins Haus und ins Stallgebäude umgezogen waren. Der Wagen war hin und her gefahren, beladen mit den Taschen und Büchern, auf die Emily Holcombe während ihres Aufenthaltes nicht verzichten wollte, und mit dem Gepäck aus Peregrine Cottage. Tremlett hatte am Steuer gesessen, Miranda Oliver kerzengerade neben sich, jeder Zentimeter ihres Körpers ein Bild der Ablehnung. Yelland, der seine Taschen selbst getragen hatte, war durch den Hintereingang ins Haus gekommen und hatte mit niemandem gesprochen. Kate kam es vor, als erwarte die Insel eine Invasion von Feinden, die bereits gesichtet worden waren, und alle Schutz in Combe House suchten, um sich für den entscheidenden Kampf zu wappnen.

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un kamen die beiden Staveleys aus dem Haus, und Jago fuhr mit dem Wagen vor. Kates Herz stolperte kurz, als sie sah, wie Sauerstoffflaschen und zwei große Kisten, die offensichtlich medizinisches Material enthielten, ausgeladen und von Jago und Dr. Staveley in Empfang genommen wurden, die alles in den Geländewagen packten. Rund zwanzig Meter von dem Hubschrauber entfernt war ein Tisch aufgestellt worden, über den alles gefahrlos abgewickelt werden konnte. Da alle Schutzmasken trugen und so weit wie möglich auf Distanz blieben, dauerte die Prozedur, zu der auch die Übergabe der Beweismittelbeutel gehörte, erstaunlich lange. Zehn Minuten später hob der Hubschrauber wieder ab. Kate und Benton blickten ihm nach, bis er außer Sicht war, dann wandten sie sich schweigend ab.
Die Zeit verstrich schleppend. Die Ereignisse hatten alle tief erschüttert. Daher hatte Kate beschlossen, mit den Vernehmungen bis zum nächsten Tag zu warten und es gab am Dienstag so gut wie nichts mehr zu tun.
Als es dämmerte, sagte Kate: »Ich will mich oben im Krankenzimmer erkundigen, wie es Mr. Dalgliesh geht, und wir sollten wissen, wo die Chirurgenhandschuhe aufbewahrt werden und wer Zugang dazu hatte.«
Ehe sie sich auf den Weg machte, duschte sie und zog sich um, dann nahm sie sich die Zeit, ein paar Minuten aufs Meer hinauszuschauen, weil sie das Bedürfnis hatte, allein zu sein. Sie wollte die Wahrheit erfahren und fürchtete sich zugleich davor. Die Dämmerung brach schnell herein, hüllte die vertrauten Gebäude ein. Hinter ihr flammten im Combe House nacheinander die Lichter auf, doch die Cottages und das gesamte Stallgebäude blieben finster. Nur in ihrem und in Bentons Zimmer brannte Licht. Der Leuchtturm verschwand als Letztes, doch auch als der Turm längst zu einem gespenstischen Schemen verblasst war, schimmerten die Wellen noch immer wie weiße Flocken vor den düsteren Klippen.

S
ie schloss die Seitentür auf und durchquerte die Halle. Während sie im Fahrstuhl nach oben fuhr, starrte sie ihr Spiegelbild an. Ihr Gesicht schien um Jahre gealtert, die Augen müde. Mit dem straff nach hinten gebundenen Haar sah ihr Gesicht verletzlich aus, nackt und bloß.
Jo Staveley war in der Praxis. Kate betrat den Raum zum ersten Mal, aber sie hatte keinen Blick für die Einzelheiten, außer für die Stahlschränke mit ihren säuberlich beschrifteten Etiketten. Sie fragte: »Wie geht es Mr. Dalgliesh?«

J
o Staveley stand in ihrem weißen Kittel hinter einem Schreibtisch und studierte eine Akte. Als sie aufblickte, fiel Kate auf, dass auch aus ihrem Gesicht aller Schwung gewichen war. Jo Staveley klappte die Akte zu und sagte: »Die übliche Antwort lautet wohl: den Umständen entsprechend. Ich könnte auch sagen, es geht ihm gut, aber es geht ihm nicht gut und seine Temperatur ist höher als uns lieb ist. Wir müssen abwarten. Kurze Fieberschübe sind vielleicht nicht untypisch. Ich habe keinerlei Erfahrung mit SARS-Patienten.«
»Kann ich zu ihm? Es ist wichtig.«
»Ich glaube nicht. Guy ist gerade bei ihm. Er muss gleich zurück sein. Setzen Sie sich doch und warten Sie, bis er hier ist.«
»Und Dr. Speidel?«
»Er kommt durch. Nett von Ihnen, dass Sie fragen. Die meisten scheinen ihn ganz vergessen zu haben.«
Kate fragte unvermittelt: »Was passiert, wenn Gäste etwas aus der Praxis brauchen - Tabletten, einen Verband, so was in der Art?«
Der abrupte Themenwechsel, die fast schroffe Frage, überraschten Jo offensichtlich. »Dann bitten sie mich darum. Ganz ohne Formalitäten.«
»Ist die Praxis offen? Ich meine, könnten sie einfach hier herein und sich bedienen?«
»Sie kommen nicht an die Medikamente. Alle rezeptpflichtigen Medikamente sind unter Verschluss.«
»Die Praxis ist nicht abgeschlossen?«
»Nein, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die Leute hier heimlich ein und aus gehen. Wenn doch, könnten sie allerdings weder sich selbst noch anderen irgendwelchen Schaden zufügen. Ich halte sogar einige rezeptfreie Medikamente unter Verschluss, Aspirin zum Beispiel.« Sie musterte Kate jetzt mit unverhohlener Neugier.

K
ate ließ sich nicht beirren. »Und wie sieht es aus mit Materialien wie Verbänden oder Chirurgenhandschuhen?«
»Ich kann mir zwar nicht vorstellen, warum Gäste so etwas brauchen sollten, doch diese Sachen sind nicht unter Verschluss. Sollte Bedarf entstehen, würden sie sicherlich mich oder Guy fragen. Das wäre nicht nur höflich, sondern auch am vernünftigsten. Sie würden sich wohl kaum einfach selbst bedienen.«
»Würden Sie denn merken, wenn was fehlt?«
»Nicht unbedingt. Als wir Martha Padgett gepflegt haben, haben wir einiges an Material zur Verfügung gestellt. Mrs. Burbridge hat uns gelegentlich geholfen und sich immer genommen, was sie brauchte. Warum fragen Sie das? Sie haben doch wohl keine Medikamente gefunden? Wenn ja, dann sind die jedenfalls nicht hier aus der Praxis.«
»Nein, ich habe keine Medikamente gefunden.«
Die Tür ging auf, und Guy Staveley kam herein. Jo erklärte ihm: »Inspector Miskin möchte zu Mr. Dalgliesh. Ich habe ihr schon gesagt, dass das heute Abend wohl nicht möglich ist.«
»Leider nein. Im Augenblick schläft er, und er sollte nicht gestört werden. Vielleicht morgen irgendwann, vorausgesetzt, das Fieber sinkt und er ist noch hier. Ich überlege, ihn morgen Vormittag aufs Festland bringen zu lassen.«
Kate wandte ein: »Hat er Ihnen nicht gesagt, dass er auf der Insel bleiben will?«
»Doch, und zwar mit größtem Nachdruck. Deshalb habe ich ja auch den Sauerstoff und andere Dinge angefordert, die ich möglicherweise brauche. Im Moment können Jo und ich ihn noch versorgen, aber wenn er morgen früh immer noch hohes Fieber hat, muss er ins Krankenhaus. Wir sind hier nicht für Schwerkranke ausgerüstet.«
Kates Sorge wuchs. Sie dachte: Und dir ist lieber, er stirbt im Krankenhaus und nicht hier. Sie sagte: »Wenn er unbedingt hier bleiben will, können Sie ihn dann wirklich gegen seinen Willen verlegen? Wäre ein Transport nicht gefährlicher, als ihn hier zu lassen?«
Staveley erwiderte mit leicht gereiztem Unterton: »Es tut mir Leid, aber ich kann die Verantwortung nun mal nicht übernehmen.«
»Sie sind Arzt. Da ist es doch Ihre Pflicht, Verantwortung zu übernehmen.«
Nach einem Moment des Schweigens, wandte Staveley sich ab. Sie hörte ihn murmeln: »Also gut, er kann bleiben. Und jetzt muss ich wieder zu ihm. Gute Nacht, Miss Miskin, und viel Glück bei Ihren Ermittlungen.«
Kate sah Jo an: »Könnten Sie ihm etwas ausrichten, wenn es ihm gut genug geht?«
»Kann ich machen.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 19.10.2006