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Vor allem wird SARS durch engen Kontakt mit anderen Menschen übertragen, etwa durch Tröpfcheninfektion, wenn die erkrankte Person hustet oder niest oder jemand etwas berührt, das bereits durch verseuchte Tröpfchen kontaminiert ist, und sich dann an Nase, Mund oder Augen fasst. SARS kann jedoch auch auf anderem Wege durch die Luft übertragen werden. Darüber liegen allerdings noch keine gesicherten Erkenntnisse vor. Wir dürfen davon ausgehen, dass nur diejenigen von Ihnen, die mit Dr. Speidel oder Mr. Dalgliesh in engen Kontakt gekommen sind, ernsthaft gefährdet sind. Dennoch sollten vorsichtshalber alle hier auf Combe Island etwa zehn Tage in Quarantäne bleiben. Das Gesundheitsamt ist befugt, infizierte Personen ebenso wie Personen, die infiziert sein könnten, unter Quarantäne zu stellen. Ich weiß nicht, ob von dieser Maßnahme auch diejenigen von Ihnen betroffen sein werden, die nicht in engen Kontakt mit Dr. Speidel und Mr. Dalgliesh gekommen sind, aber ich hoffe, wir können uns darauf verständigen, dass es am vernünftigsten ist, wenn alle Beteiligten eine freiwillige Quarantäne akzeptieren und auf der Insel bleiben, bis man uns mitteilt, dass wir sie gefahrlos verlassen können. Immerhin werden wir nicht irgendwo fern von daheim isoliert. Und Combe Island ist schließlich unser aller Zuhause, mit Ausnahme der Polizeibeamten und unserer Gäste. Man bittet uns nur, auf unsere Ausflüge zum Festland zu verzichten, bis die Infektionsgefahr gebannt ist. Falls jemand damit nicht einverstanden ist, möge er mich das bitte wissen lassen.«
Niemand sagte etwas. Millie blickte einen Moment lang rebellisch drein, dann fügte sie sich in ihr Schicksal.

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lötzlich meldete sich Padgett mit schriller Stimme zu Wort. »Mir passt das überhaupt nicht. Combe ist nicht mein Zuhause. Nicht mehr. Ich habe ein Vorstellungsgespräch in London für einen Studienplatz. Ich will Combe verlassen, jetzt wo Mutter tot ist, und ich kann unmöglich noch zehn Tage länger bleiben. Wenn ich den Termin verpasse, kann ich den Studienplatz vergessen.«
Zur Verblüffung aller antwortete Yelland: »Das ist doch lächerlich. Natürlich halten die Ihnen den Platz frei. Die würden sich wohl kaum über Ihr Erscheinen freuen, wenn sie befürchten müssen, dass Sie möglicherweise mit SARS infiziert sind.«
»Bin ich aber nicht. Das hat Dr. Staveley gerade eben erklärt.«
»Commander Dalgliesh hat Sie doch vernommen, oder etwa nicht? Entweder er selbst oder einer seiner Mitarbeiter, und die sind möglicherweise auch infiziert. Sie sollten das Unvermeidliche akzeptieren und aufhören zu jammern.«
Padgett lief rot an und schien etwas entgegnen zu wollen.

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ber Dr. Staveley kam ihm zuvor: »Nun, dann akzeptieren wir also unsere freiwillige Quarantäne. Ich werde die Behörden entsprechend verständigen. Inzwischen ist übrigens längst die internationale Suche nach den Passagieren der Maschine angelaufen, mit der Dr. Speidel aus Peking gekommen ist, und auch der Freund, bei dem er in Südfrankreich war, ist verständigt worden. Gott sei Dank ist das nicht meine Aufgabe. Meine Frau und ich kümmern uns erst einmal um Commander Dalgliesh, aber möglicherweise muss ich ihn später nach Plymouth überführen lassen. Jeder von Ihnen, der in den nächsten Tagen erkrankt, kommt bitte unverzüglich zu uns in die Praxis. SARS beginnt normalerweise mit Fieber und den typischen Grippesymptomen: Kopfschmerzen, allgemeines Unwohlsein, Gliederschmerzen. Manche Patienten, aber nicht alle, bekommen gleich zu Anfang Husten. Ich denke, das war es für den Augenblick. Die Aufklärung des Mordes an Adrian Boyde, der uns unter anderen Umständen primär beschäftigen würde, liegt in den Händen von Inspector Miskin und Sergeant Benton-Smith. Ich denke, wir werden alle ebenso bereitwillig mit ihnen zusammenarbeiten wie mit Commander Dalgliesh. Hat noch jemand eine Frage?« Er sah Maycroft an. »Möchten Sie noch etwas sagen, Rupert?«
»Nur zum Thema Medien. Die Nachricht wird um ein Uhr im Radio und im Fernsehen gemeldet. Ich fürchte, dann ist es mit der Ruhe hier auf der Insel vorbei. Wir tun alles, was wir können, um die Belästigung so gering wie möglich zu halten. Sämtliche Telefone hier haben Geheimnummern, was aber keine Garantie dafür ist, dass nicht doch einige Leute Nummern herausfinden. Die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit von New Scotland Yard kümmert sich um die Berichterstattung. Man wird den Medien mitteilen, dass die Ermittlungen laufen, sich in dieser frühen Phase jedoch nichts Konkretes mitteilen lässt. Das Verfahren zur Feststellung der Todesursache von Mr. Oliver ist erst einmal verschoben worden, und wenn es stattfindet, wird es vermutlich vertagt werden. Wer die Berichterstattung verfolgen möchte, der darf sich bestimmt das eine oder andere bei Mrs. Plunkett im Fernsehen anschauen. Zusammen mit einer Versorgungslieferung bringt der Hubschrauber morgen auch die Zeitungen. Ich kann nicht behaupten, dass ich mich drauf freue.«
Dr. Yelland sagte: »Was ist, wenn die Journalisten ebenfalls mit dem Hubschrauber herüberkommen?«
»Ich glaube nicht, dass es irgendein Journalist schafft, auf die Insel zu gelangen. Der Hubschrauberlandeplatz wird gesperrt, außer für Rettungsflüge oder irgendwelche Lieferungen. Vielleicht wird es eine gewisse Lärmbelästigung durch andere Hubschrauber geben, die über der Insel kreisen, aber damit müssen wir uns wohl abfinden. Haben Sie noch was, Inspector?«

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ch möchte noch etwas ergänzen zu dem, was ich vorhin schon gesagt habe. Bitte bleiben Sie möglichst zusammen. Falls Sie frische Luft schnappen wollen, nehmen Sie immer einen oder zwei Begleiter mit, und bleiben Sie in Sichtweite des Hauses. Sie alle haben Schlüssel für Ihre Cottages beziehungsweise für Ihre Zimmer im Haus oder im Stallgebäude, und Sie sollten sie möglichst verschlossen halten. Sergeant Benton-Smith und ich bitten Sie um Erlaubnis, falls nötig, eine Durchsuchung Ihrer Räumlichkeiten vorzunehmen. Ich möchte mir die Zeit sparen, die bis zum Eintreffen von Durchsuchungsbefehlen vergehen würde. Hat jemand irgendwelche Einwände?« Keiner meldete sich. »Dann fasse ich das als Einwilligung auf. Danke. Ehe wir auseinander gehen, möchte ich, dass jeder von Ihnen aufschreibt, wo er zwischen neun Uhr gestern Abend und acht Uhr heute Morgen war und was er gemacht hat. Sergeant Benton-Smith wird Ihnen Papier und Stifte geben und die Blätter dann einsammeln.«
Emily Holcombe sagte: »Wir sehen bestimmt aus wie eine Gruppe überalterter Studenten, die über Ihrer Examensklausur brüten. Führt Sergeant Benton-Smith auch Aufsicht?«
Kate lachte: »Aber nein, Miss Holcombe. Oder wollen sie etwa mogeln?« Dann wandte sie sich an die Anwesenden. »Das wäre fürs Erste alles. Vielen Dank.«

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ie Blätter und Stifte lagen auf Maycrofts Schreibtisch bereit. Als Benton über den Flur ging, um sie zu holen, dachte er, dass Kate und er sich als Duo bei der Besprechung mit den Verdächtigen tapfer geschlagen hatten. Ihm war nicht entgangen, dass die Insulaner sich auf die tröstliche Theorie verlegt hatten, es müsse einem Fremden irgendwie gelungen sein, auf die Insel zu kommen. Und es gab bestimmt keinen Grund, ihnen das auszureden. Die Angst vor einem psychopathischen Mörder würde sie zumindest zusammenschweißen. Außerdem hatte diese Theorie noch einen weiteren Vorteil: Der Mörder würde sich sicherer fühlen und daher selbstbewusster werden. Und mit dem Selbstbewusstsein eines Mörders nahm häufig sein Leichtsinn zu - und er begann vielleicht Fehler zu machen. Benton warf einen Blick auf die Uhr. In weniger als neunzig Minuten würde die Flut steigen. Doch erst mussten sie mit Mrs. Burbridge sprechen. Ihre Aussage konnte die gefährliche Kletterpartie überflüssig machen.
Im Gegensatz zu den anderen hatte sie sich nicht gleich darangemacht, ihre Aussage aufzuschreiben, sondern hatte das Blatt Papier zusammengefaltet und sorgfältig in ihre Handtasche gesteckt. Jetzt stand sie auf, über Nacht gealtert, und ging Richtung Tür.
Kate hielt sie auf. »Wir würden gern mit Ihnen sprechen, Mrs. Burbridge. Es ist ziemlich dringend. Wäre es jetzt sofort möglich?«
Ohne ihren Blick zu erwidern, sagte Mrs. Burbridge: »Wenn Sie sich noch fünf Minuten gedulden würden. Bitte. Nur fünf Minuten.« Sie verließ den Raum.
Benton schaute wieder auf die Uhr. »Wir wollen hoffen, dass es wirklich nicht länger dauert, MaÕam.«


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Mrs. Burbridge empfing Kate und Benton wortlos an ihrer Wohnungstür und führte sie zu Kates gelinder Verwunderung nicht ins Wohnzimmer, sondern in ihr Atelier. Dort nahm sie an dem größeren Tisch Platz. Bei dem Treffen in der Bibliothek war Kate so damit beschäftigt gewesen, die richtigen Worte zu finden, dass sie sich nicht auf die einzelnen Gesichter hatte konzentrieren können. Jetzt sah sie eine Frau vor sich, die von ihrer Trauer dermaßen gezeichnet war, dass sie kaum noch als die Frau wieder zu erkennen war, mit der Kate nach dem Mord an Nathan Oliver erstmals gesprochen hatte.

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 13.10.2006