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Die Augen der Gruppe richteten sich automatisch auf sie: »Ich möchte im Cottage bleiben. Dennis ist zu mir gezogen, daher brauche ich mich nicht zu ängstigen. Ich denke, inzwischen weiß jeder hier, dass wir heiraten werden. Es wäre ungehörig, das so kurz nach dem Tod meines Vaters offiziell bekannt zu geben, aber wir sind verlobt. Natürlich möchte ich unter den gegebenen Umständen nicht von meinem Verlobten getrennt werden.«
Benton dachte, dass die Erklärung einstudiert klang, aber sie verblüffte ihn dennoch. War der Frau denn nicht klar, wie unpassend die freudige Bekanntgabe einer Verlobung zu diesem Zeitpunkt war? Er spürte die allgemeine Verlegenheit. Wie seltsam, dass ein gesellschaftlicher Fauxpas diese Leute derart aus der Fassung bringen konnte, wo gerade in ihrer unmittelbaren Umgebung ein Mord geschehen war und sie Todesangst haben mussten.
Emily Holcombe fragte: »Was ist mit Ihnen, Dr. Yelland? Ihr Cottage ist am abgelegensten.«

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h, ich werde hier einziehen. Es gibt nur eine Person auf der Insel, die keine Angst haben muss, ermordet zu werden, und das ist der Mörder selbst. Da ich das nicht bin, würde ich lieber hier im Haus wohnen als allein im Murrelet Cottage. Ich halte es für wahrscheinlich, dass die Polizei nach einem psychisch gestörten Killer sucht, der wohl kaum rationalen Erwägungen bei der Wahl seines nächsten Opfers zugänglich ist. Mir wäre eine der Gästesuiten im Haus lieber als das Stallgebäude, und da ich Arbeit mitgebracht habe, benötige ich einen Schreibtisch.«

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aycroft erklärte: »Jago muss in seinem Cottage bleiben, um den Hafen zu überwachen. Sind Sie damit einverstanden, Jago?«
»Irgendwer muss ja im Harbour Cottage bleiben, Sir, und wer außer mir käme dafür besser in Frage? Außerdem kann ich auf mich allein aufpassen.«
Seit Maycroft aufgehört hatte zu reden, schluchzte Millie leise und jämmerlich vor sich hin. Es klang wie das Jaulen eines Kätzchens. Hin und wieder drückte Mrs. Plunkett die kleine geballte Hand, sonst unternahm sie keine Tröstungsversuche. Von den anderen kümmerte sich niemand um sie, doch da rief Millie plötzlich: »Ich will nicht hier wohnen! Ich will weg, aufs Festland. Ich bleibe nicht hier, wo Leute ermordet werden! Ihr könnt mich nicht zwingen zu bleiben!« Sie wandte sich an Jago. »Jago, du bringst mich doch rüber, nicht? Du bringst mich mit dem Boot hin, ja? Ich kann bei Jake wohnen. Oder sonst wo. Ihr könnt mich hier nicht festhalten!«

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elland erklärte: »Im Grunde genommen hat sie wahrscheinlich Recht. Wir bleiben hier freiwillig in Quarantäne, oder? Die für die Insel zuständige Behörde kann keine Zwangsmaßnahmen ergreifen, solange wir nicht tatsächlich an einer ansteckenden Krankheit leiden. Ich bin gerne bereit zu bleiben, ich möchte nur wissen, wie die rechtliche Sachlage ist.«
Auf einmal klang Maycrofts Stimme bestimmter, als Benton sie je gehört hatte. »Ich bin dabei, das abzuklären. Falls jemand die Insel unbedingt verlassen will, rate ich ihm dringend, wenigstens bis zum Ablauf der Inkubationszeit hier zu bleiben und sich von den anderen fern zu halten. Die Inkubationszeit beträgt zehn Tage, glaube ich, aber das wird uns Dr. Staveley genauer sagen können. Die Frage ist jedoch rein theoretischer Natur. Es kommen nie Ausflügler nach Combe, und unter den gegebenen Umständen wird erst recht niemand hier anlegen dürfen.«
Emily fragte: »Dann sind wir praktisch Gefangene?«
»Nicht mehr, als wir das bei dichtem Nebel sind, Emily, oder bei einem heftigen Unwetter. Über die Barkasse habe ich zu bestimmen. Und bis zum Ende der Inkubationszeit werde ich sie keinem zur Verfügung stellen. Hat jemand was daran auszusetzen?«

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iemand meldete sich, nur Millies Stimme erhob sich zu einem Crescendo: »Ich will nicht hier bleiben! Ihr könnt mich nicht zwingen!«
Jago rückte seinen Stuhl näher zu ihr und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Niemand hörte, was er sagte, aber Millie beruhigte sich allmählich, bis sie schließlich trotzig fragte: »Wieso kann ich dann nicht bei dir im Harbour Cottage bleiben?«
»Weil du bei Mrs. Burbridge im großen Haus genauso gut aufgehoben bist. Keiner wird dir was tun. Sei tapfer und vernünftig, dann bist du eine echte Heldin, wenn das alles hier vorbei ist.«

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ie ganze Zeit über hatte Mrs. Burbridge geschwiegen. Jetzt drohte ihre Stimme zu versagen: »Keiner von euch hat Adrian Boyde auch nur erwähnt. Nicht einer. Er ist brutal ermordet worden, und wir denken nur an unsere eigene Sicherheit, ob wir die Nächsten sein könnten, ob wir SARS bekommen, und er liegt jetzt irgendwo aufgebahrt und wartet darauf, aufgeschnitten und etikettiert zu werden, ein Beweisstück in einem Mordfall.«

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aycroft erklärte beschwichtigend: »Evelyn, ich habe gesagt, dass er ein guter Mensch war, und das war er wirklich. Und Sie haben völlig Recht. Aber dieser doppelte Notfall nimmt mich einfach zu sehr in Anspruch, um die richtigen Worte zu finden. Die Zeit der Trauer wird kommen.«
»Für die Trauer um meinen Vater habt ihr nicht einen Moment Zeit gefunden!« Miranda war aufgesprungen. »Es war euch doch gleichgültig, ob er tot ist oder lebendig. Einige von euch waren sogar froh über seinen Tod. Ich weiß, welche Meinung ihr von ihm hattet, also bildet euch bloß nicht ein, dass ich hier aufstehe und zwei Schweigeminuten für Mr. Boyde abhalte, falls euch das vorschwebt.« Sie wandte sich an Kate. »Und vergessen Sie nicht, dass Daddy als Erster gestorben ist. Sein Tod ist noch nicht aufgeklärt.«
»Wir sind dabei.«

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enton dachte: Wir müssen dafür sorgen, dass sie zusammenhalten. Wir können sie nicht alle schützen und gleichzeitig einen Doppelmord untersuchen. Das hier ist die einzige Möglichkeit, unsere Autorität zu untermauern. Wenn wir jetzt die Kontrolle verlieren, haben wir verloren. Wir dürfen nicht zulassen, dass Emily Holcombe das Sagen hat.
Er warf Kate einen Blick zu, und irgendwie spürte sie seine Nervosität. Sie fragte: »Möchten Sie noch etwas sagen, Sergeant?«
»Nur eines, MaÕam.« Er sah die Gruppe an und richtete dann seinen Blick auf Emily Holcombe. »Wir bitten Sie nicht nur aus Gründen Ihrer Sicherheit, Ihre Cottages zu verlassen. Da Mr. Dalgliesh erkrankt ist, müssen wir unsere Kräfte effektiv bündeln. Es ist nicht sicherer, sondern auch umsichtig, Sie alle an einem Ort unterzubringen. Wer nicht kooperiert, behindert die Ermittlungen in erheblichem Maße.«

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inen Moment lang meinte Benton, so etwas wie grimmige Erheiterung auf Miss Holcombes Gesicht zu sehen. Sie sagte: »Wenn Sie das so sagen, Sergeant, bleibt uns wohl keine Wahl. Ich möchte nicht der Sündenbock sein, wenn irgendwas schief läuft. Ich hätte gerne das Schlafzimmer meiner Eltern hier im Haus. Roughtwood wird im Stallgebäude untergebracht. Und Sie sollten auch lieber ins Haus umziehen, Miranda. Mr. Tremlett hat sich im Stallgebäude doch immer ganz wohl gefühlt. Sie sind sicher in der Lage, ein paar Nächte getrennt zu verbringen.«
Ehe Miranda etwas entgegnen konnte, öffnete sich die Tür, und Guy Staveley kam herein. Irgendwie hatte Benton erwartet, dass er einen weißen Kittel tragen würde. Die braune Kordhose und die Tweedjacke, die der Arzt seit dem Morgen anhatte, erschienen jetzt unpassend. Staveley trat leise in den Raum. Sein Gesicht war ebenso ernst wie das von Maycroft, und bevor er etwas sagte, schaute er zu diesem hinüber, als bräuchte er Zuspruch, doch seine Stimme war kräftig und überraschend gebietend. Das war ein anderer Staveley als der, den Benton bisher kennen gelernt hatte. Alle Augen ruhten auf ihm. Als Benton von einem Gesicht zum anderen blickte, erkannte er Hoffnung, Angst und das stumme Flehen, das er schon oft gesehen hatte: das verzweifelte Verlangen nach den beruhigenden Worten des Fachmannes.

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er Stuhl am Kopfende des langen Tisches war frei. Staveley ging dorthin und setzte sich Mrs. Burbridge gegenüber. Maycroft zog sich den Stuhl rechts von ihm heran, und alle, die noch standen, Kate eingeschlossen, suchten sich einen Platz. Nur Benton blieb weiter stehen. Er trat ans Fenster, genoss die hereinströmende, nach Meer riechende Luft.

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taveley sagte: »Wie Sie vermutlich schon von Inspector Miskin erfahren haben, steht jetzt eindeutig fest, dass Dr. Speidel an SARS erkrankt ist. Er liegt auf der Isolierstation in Plymouth und ist in besten Händen. Seine Frau und einige andere Angehörige aus Deutschland sind auf dem Weg dorthin und werden ihn, natürlich unter strengsten Vorsichtsmaßnahmen, besuchen. Sein Zustand ist noch immer ernst. Außerdem muss ich Ihnen mitteilen, dass Commander Dalgliesh sich infiziert hat und derzeit hier im Haus im Krankenzimmer liegt. Es müssen noch Proben untersucht werden, um die Diagnose zu bestätigen, aber ich fürchte, es besteht kaum ein Zweifel. Falls sich sein Zustand verschlechtert, wird auch er mit dem Hubschrauber nach Plymouth gebracht.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 12.10.2006