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Die Trage war auf der Rückbank verstaut. Benton half Maycroft, sie herauszuziehen. Maycroft wartete, während Kate und Benton die Trage in die Kapelle rollten. Wenige Minuten später setzte sich die traurige Prozession in Bewegung. Maycroft fuhr mit dem Wagen vorneweg, während Kate und Benton rechts und links von der Trage gingen und sie schoben. Kate fand die ganze Szene irgendwie unwirklich, ein bizarres und fremdartiges Ritual: Das unstete Sonnenlicht, das jetzt weniger kräftig war, und die launische Brise, die Maycrofts Haar zerzauste, der leuchtend grüne Chorrock wie ein geschmackloses Leichentuch, sie selbst und Benton als ernst dreinblickende Trauernde, die dem im Schritttempo fahrenden Wagen folgten, der Tote, der hin und wieder durchgerüttelt wurde, wenn die Räder der Trage über eine holprige Stelle rollten, die Stille, nur durchbrochen von den Geräuschen, die sie verursachten, vom allgegenwärtigen Rauschen des Meeres und den vereinzelten, beinahe menschlichen Schreien eines Möwenschwarms, der flügelschlagend über ihnen kreiste, als verhieße dieser seltsame Trauerzug die Hoffnung auf Futter.

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E
s war kurz vor halb zehn. Kate und Benton hatten gut zwanzig Minuten lang mit Maycroft das weitere Vorgehen unter diesen Umständen erörtert, und es war Zeit für ein Gespräch mit den übrigen Inselbewohnern. Benton bemerkte, dass Kate kurz vor der Tür zur Bibliothek stehen blieb, und als er sie einmal tief Luft holen hörte, meinte er, seinen eigenen Atem zu vernehmen. Er konnte ihr die Anspannung von Schultern und Nacken ablesen, als sie den Kopf hob, um sich dem zu stellen, was sie jenseits des glatten, abweisenden Mahagoniholzes erwartete. Wenn er später einmal daran zurückdachte, konnte er nur staunen, wie viele Gedanken und Ängste in diese kurzen drei Sekunden hineingepasst hatten. Eine Anwandlung von Mitleid ergriff ihn; dieser Fall würde über Kates Zukunft entscheiden, und das wusste sie. Auch für ihn konnte er alles oder nichts bedeuten, aber die Last der Verantwortung lag allein auf ihren Schultern. Und würde sie es ertragen können, je wieder für Dalgliesh zu arbeiten, wenn sie ihn und sich selbst enttäuschte? Plötzlich erinnerte er sich wieder klar und deutlich an Dalglieshs letzte Worte, die er vor der Kapelle zu ihr gesagt hatte, und an ihr Gesicht, ihre Stimme. Er dachte: Sie liebt ihn. Sie denkt, er wird sterben. Da umfasste sie den Türknauf und drehte ihn entschlossen herum.

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r zog die Tür hinter ihnen zu. Der Geruch der Angst schlug ihnen entgegen, säuerlich wie die Ausdünstungen in einem Krankenzimmer. Wie konnte die Luft nur so verpestet sein? Er sagte sich, dass seine Fantasie mit ihm durchging. Sicher kam es nur daher, dass die Fenster geschlossen waren. Sie atmeten abgestandene Luft ein, steckten sich gegenseitig mit ihrer Angst an. Und doch bot sich ihm ein anderer Anblick als beim ersten Mal in der Bibliothek. War das wirklich erst drei Tage her? Damals hatten sie wie gehorsame Kinder, die auf die Ankunft des Schuldirektors warten, an dem langen Tisch gesessen. Damals hatte er Schock und Entsetzen gespürt, aber auch Aufregung. Die meisten im Raum hatten nichts zu befürchten gehabt. Einen Mordfall aus unmittelbarer Nähe zu erleben, beteiligt, aber unschuldig, konnte ungemein faszinierend sein. Jetzt spürte er nur Angst.
Als wollten sie vermeiden, einander über den Tisch hinweg in die Augen sehen zu müssen, hatten sie sich im Raum verteilt. Nur drei waren zusammengerückt: Mrs. Plunkett saß neben Millie Tranter, die Hände auf dem Tisch, wobei die große Hand der Köchin die des Mädchens umfasst hielt. Und Jago hatte links von Millie Platz genommen. Am Kopfende des Tisches verkörperte stocksteif und bleich Mrs. Burbridge Entsetzen und Trauer. Emily Holcombe hatte es sich in einem der Ledersessel vor dem Kamin bequem gemacht, und Roughtwood stand in Habachtstellung hinter ihr, ein Wachposten im Dienst. Mark Yelland saß ihr gegenüber, den Kopf zurückgelehnt, die Arme locker auf den Lehnen, so entspannt, als wollte er ein Nickerchen machen. Miranda Oliver und Dennis Tremlett hatten zwei kleinere Bibliothekssessel vor eins der Bücherregale geschoben und saßen Seite an Seite. Dan Padgett hatte ebenfalls etwas abseits in einem der kleineren Sessel Platz genommen, ließ die Arme zwischen den Knien baumeln und hatte den Kopf gesenkt.
Als sie eintraten, richteten sich alle Augen auf sie, aber keiner rührte sich. Maycroft, der nach ihnen den Raum betreten hatte, ging an den Tisch und nahm auf einem der freien Stühle Platz.
Kate sagte: »Könnten wir bitte ein Fenster aufmachen?«
Jago erhob sich und öffnete ein Fenster nach dem anderen. Ein kühler Lufthauch wehte herein, und das Rauschen des Meeres wurde lauter.
Miranda Oliver sagte: »Nicht alle Fenster, Jago. Zwei sind genug.« Ihre Stimme klang leicht beleidigt. Sie sah die anderen an, als erwarte sie Unterstützung, doch niemand sagte etwas. Wortlos schloss Jago alle Fenster bis auf zwei.
Kate wartete, bis er fertig war, dann sagte sie: »Es gibt zwei Gründe, warum wir uns alle hier versammelt haben, alle, bis auf Dr. Staveley und seine Frau. Die beiden werden jedoch bald zu uns stoßen. Mr. Maycroft hat Sie davon unterrichtet, dass es einen zweiten Todesfall auf der Insel gegeben hat. Um acht Uhr heute Morgen hat Commander Dalgliesh in der Kapelle die Leiche von Adrian Boyde entdeckt. Sie wissen außerdem bereits, dass Dr. Speidel ins Krankenhaus gebracht wurde und dass er SARS hat - das schwere akute respiratorische Syndrom. Leider ist auch Mr. Dalgliesh erkrankt. Das bedeutet, dass ich die Leitung der Ermittlung übernommen habe und zusammen mit Sergeant Benton-Smith weiterführen werde. Es bedeutet auch, dass wir alle unter Quarantäne gestellt werden. Für wie lange, wird Dr. Staveley erläutern. Während dieser Zeit werden mein Kollege und ich selbstverständlich weiter sowohl den Tod von Mr. Oliver als auch den Mord an Adrian Boyde untersuchen. Wir halten es für ratsam, dass diejenigen von Ihnen, die in den Cottages wohnen, vorläufig in das Stallgebäude oder ins Haupthaus ziehen. Möchten Sie etwas sagen, Mr. Maycroft?«

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aycroft stand auf. Ehe er das Wort ergreifen konnte, warf Mark Yelland ein: »Sie haben gerade das Wort Mord benutzt. Müssen wir davon ausgehen, dass es sich bei diesem zweiten Todesfall weder um einen Unfall noch um Selbstmord handeln kann?«
Kate bestätigte: »Mr. Boyde wurde ermordet. Mehr kann ich im Augenblick nicht dazu sagen. Mr. Maycroft?«
Niemand äußerte etwas. Benton hatte zumindest mit Gemurmel gerechnet, mit entsetzten oder verblüfften Ausrufen, aber anscheinend standen sie unter Schock. Er hörte bloß, wie alle gemeinsam nach Luft schnappten, so leise, dass es auch ein Säuseln des Windes hätte sein können. Jetzt richteten sich alle Augen auf Maycroft. Er umfasste die Rückenlehne seines Stuhls und schob Jago ein wenig beiseite, als sei er sich dessen Anwesenheit gar nicht bewusst. Seine Fingerknöchel hoben sich weiß von dem Holz ab, und sein Gesicht, aus dem nicht nur die Farbe, sondern auch alles Leben gewichen war, glich dem eines alten Mannes. Aber als er sprach, klang seine Stimme fest.
»Inspector Miskin hat Ihnen das Wichtigste bereits gesagt. Guy und Jo Staveley sind zurzeit bei Mr. Dalgliesh. Dr. Staveley wird gleich kommen, und Sie über SARS informieren. Ich möchte jetzt nur die Gelegenheit nutzen, in unser aller Namen der Polizei gegenüber deutlich machen, wie schockiert und entsetzt wir über den Tod eines guten Menschen sind, der zu uns gehörte. Und ich möchte Inspector Miskin versichern, dass wir sie ebenso unterstützen werden, wie wir das bei Mr. Dalgliesh getan haben. Ich habe bereits mit ihr die Frage der Unterbringung besprochen. Angesichts dieses neuen und offenbar grundlosen Mordes sind alle Unschuldigen in gewisser Weise gefährdet. Vielleicht sind wir einfach vorschnell davon ausgegangen, dass unsere Insel nicht unbemerkt betreten werden kann. Wir haben uns geirrt. Ich muss betonen, dass das meine Meinung ist, nicht die der Polizei, aber wie dem auch sei, Inspector Miskin legt Wert darauf, dass wir alle zusammenbleiben. Hier im Haus sind zwei freie Gästesuiten, und im Stallgebäude stehen Unterkünfte zur Verfügung. Ich würde vorschlagen, dass Sie alles Nötige aus Ihren Cottages holen und sie dann abschließen. Unter Umständen muss die Polizei die Cottages nach eventuellen Eindringlingen durchsuchen, und ich werde Inspector Miskin einen Satz Schlüssel zur Verfügung stellen. Gibt es noch Fragen?«

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mily Holcombes Stimme klang fest und zuversichtlich. Benton fand, dass sie von allen Anwesenden am wenigsten verändert wirkte. Sie sagte: »Roughtwood und ich möchten lieber im Atlantic Cottage bleiben. Er ist durchaus in der Lage, mich zu beschützen, falls das erforderlich sein sollte. Außerdem haben wir sichere Türschlösser als Schutz vor ungebetenem nächtlichem Besuch. Um uns hier im Haus einschließen zu können, müssen wir einige Unbequemlichkeiten in Kauf nehmen, daher sollten doch diejenigen unter uns, die sich einigermaßen sicher fühlen, ruhig bleiben, wo sie sind.«
Sie war kaum fertig, da meldete sich auch schon Miranda Oliver zu Wort. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 11.10.2006