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Das Gespräch verlief weniger frustrierend, als sie erwartet hatte. Sicher, der Stellvertretende Polizeipräsident tat so, als sei die Komplikation SARS eine persönliche Beleidigung seiner Person, für die Kate in irgendeiner Weise die Verantwortung trug, aber sie spürte, dass er sich immerhin geschmeichelt fühlte, als Erster davon zu erfahren. Bis jetzt war die Sache noch nicht öffentlich bekannt geworden. Und als sie ihm detailliert den Stand der Ermittlungen dargelegt hatte, traf er eine, wenn auch nicht prompte, so doch zumindest klare Entscheidung.
»Es ist nicht gerade ideal, dass Sie jetzt allein mit einem Sergeant einen Doppelmord untersuchen müssen. Ich wüsste allerdings nicht, warum Sie keine technische Unterstützung von den örtlichen Polizeikräften in Anspruch nehmen sollten. Wenn die Leute von der Spurensicherung und vom Erkennungsdienst sich von infizierten Personen fern halten, dürfte ja wohl kein ernsthaftes Risiko bestehen. Letztendlich muss das natürlich das Innenministerium genehmigen.«
Kate erwiderte: »Sergeant Benton-Smith und ich wissen noch nicht, ob wir infiziert sind, Sir.«
»Das gilt es natürlich zu bedenken. Wie dem auch sei, für Seuchenkontrolle sind wir nicht zuständig. Für den Doppelmord schon. Ich rede mit dem Polizeipräsidenten in Exeter. Die können sich wenigstens um eventuelle Beweismittel kümmern. Sie machen mit Benton-Smith erst einmal weiter, zumindest in den kommenden drei Tagen, bis Freitag. Danach sehen wir, wie weit wir sind. Und Sie halten mich selbstverständlich auf dem Laufenden. Übrigens, wie gehtÕs Mr. Dalgliesh?«
»Ich weiß nicht, Sir. Ich wollte Dr. Staveley noch nicht mit Nachfragen belästigen. Ich hoffe, dass ich später am Tag etwas erfahre.«
Harkness sagte: »Ich werde diesen Staveley selbst anrufen und mit Mr. Dalgliesh sprechen, wenn er dazu in Lage ist.«
Kate dachte: Na, denn viel Glück. Sie hatte so das Gefühl, dass Guy Staveley ausgesprochen geschickt darin sein würde, seinen Patienten abzuschirmen.
Nachdem sie aufgelegt hatte, wappnete sie sich innerlich für den zweiten, schwierigeren Anruf. Sie versuchte sich zurechtzulegen, was sie Emma Lavenham sagen wollte, aber es klang alles irgendwie falsch, entweder zu beängstigend oder verharmlosend. Auf dem Zettel, den AD ihr gegeben hatte, standen zwei Nummern, Emmas Handy und ihr Festnetzanschluss. Darauf zu starren machte die Entscheidung nicht leichter. Schließlich beschloss sie, es zuerst mit der Festnetznummer zu probieren. Es war noch früh, und vielleicht war Emma noch in ihrem Zimmer im College. Oder AD hatte schon mit ihr gesprochen, allerdings hielt Kate das für unwahrscheinlich. Ohne sein Handy hätte er das Telefon in der Praxis benutzen müssen, und Dr. Staveley war vermutlich der Ansicht gewesen, dass es Dringenderes gab.
Nach fünfmaligem Läuten ertönte Emma Lavenhams Stimme am anderen Ende, selbstbewusst und unbekümmert, und löste einen Wirrwarr von Erinnerungen und Gefühlen aus.
Sobald Kate ihren Namen genannt hatte, veränderte sich die Stimme. »Es geht um Adam, nicht?«
»Leider ja. Er hat mich gebeten, Ihnen auszurichten, dass es ihm nicht gut geht. Er wird Sie anrufen, sobald er kann. Er lässt Ihnen alles Liebe ausrichten.«

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mma wahrte die Fassung, aber ihre Stimme war voller Angst. »Was heißt, nicht gut? Hatte er einen Unfall? Ist es ernst? Bitte, Kate, sagen Sie mir die Wahrheit.«
»Nein, kein Unfall. Sie werden es bestimmt bald in den Nachrichten hören. Einer der Besucher auf der Insel ist an SARS erkrankt; Mr. Dalgliesh hat sich angesteckt. Er ist hier in ein Krankenzimmer gebracht worden.«
Das Schweigen schien endlos. Dann sagte Emma: »Wie schlimm steht es um ihn? Bitte, Kate, ich muss es wissen?«

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ate antwortete: »Es ist gerade erst diagnostiziert worden. Ich weiß selbst noch nicht viel mehr. Ich hoffe, im Laufe des Tages Näheres zu erfahren. Aber ich bin sicher, er wird wieder gesund. Er ist in guten Händen. Ich meine, SARS ist schließlich nicht so was wie diese asiatische Vogelgrippe.«
Sie hatte eigentlich keine Ahnung und wollte einfach Zuversicht vermitteln. Aber wie hätte sie sich an die Wahrheit halten können, wo sie selbst diese gar nicht kannte? Sie fügte hinzu: »Und er ist sehr stark.«

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it einem herzzerreißenden Mangel an Selbstmitleid sagte Emma: »Er war schon müde, als er den Fall übernahm. Ich kann nicht zu ihm, das weiß ich. Nicht mal mit ihm sprechen kann ich. Sie würden es nicht zulassen, und er darf sich keine Sorgen machen, wie es mir geht. Das ist jetzt unwichtig. Aber richten Sie ihm bitte etwas von mir aus. Sagen Sie ihm, dass ich an ihn denke. Bestellen Sie ihm alles Liebe von mir. Und Kate - Sie rufen mich doch wieder an, ja? Sie müssen mir die Wahrheit sagen, und wenn sie noch so schlimm ist. Nichts kann schlimmer sein als das, was ich mir sonst ausmale.«
»Ja, Emma, ich rufe wieder an, und Sie erfahren alles, was ich weiß. Auf Wiederhören.«
Als Kate den Hörer auflegte, dachte sie: Nicht: »Sagen Sie ihm, dass ich ihn liebe«, sondern nur: »Bestellen Sie ihm alles Liebe von mir.« So etwas würde man auch einem guten Freund ausrichten lassen. Doch was hätte sie mir sonst auftragen sollen, solange sie es ihm nicht unter vier Augen sagen konnte? Wir möchten beide das Gleiche sagen. Ich habe immer gewusst, warum ich es nicht aussprechen kann. Aber er liebt sie, warum also kann sie es nicht sagen?

S
ie hastete zurück zur Kapelle und begann mit der Untersuchung. Sie ging vorsichtig um die Leiche herum, inspizierte den Boden, bewegte sich langsam, die Augen gesenkt. Dann trat sie hinaus in die frische Morgenluft. Bildete sie sich das nur ein, oder roch sie jetzt süßlicher? Bestimmt war es noch zu früh für den ersten leichten, aber unverkennbaren Geruch nach Tod. Sie versuchte, sich zu vergegenwärtigen, was es bedeutete, dass sie allein mit Benton und ohne weitere Unterstützung zwei Morde aufklären sollte. Für sie beide stand viel auf dem Spiel, doch ganz gleich, wie die Sache ausging, die letzte Verantwortung würde bei ihr liegen. Und für die Außenwelt - ihre Welt - wäre ein Scheitern unentschuldbar. Beide Verbrechen waren praktisch Bilderbuchmorde: ein kleiner, geschlossener Personenkreis, unerreichbar von außen, eine begrenzte Anzahl von Verdächtigen, die jetzt noch begrenzter war, da Speidel ein Alibi für Boydes Tod hatte. Benton und sie würden schon recht bald an SARS erkranken müssen, sollte ihnen ein Scheitern nicht als Versagen ausgelegt werden. Nun, gut möglich, dass sie sich angesteckt hatten. Sie hatten eine Stunde lang mit Dalgliesh in seinem Wohnzimmer im Seal Cottage zusammengesessen. Sie würden die Ermittlungen trotz der drohenden gefürchteten Krankheit fortsetzen müssen. Aber Kate wusste auch, dass die Gefahr, an SARS zu erkranken, für sie - und das galt wohl genauso für Benton - weit weniger schwer wog als die Angst davor, öffentlich zu versagen und Combe Island verlassen zu müssen, ohne die Fälle gelöst zu haben.

U
nd jetzt sah sie ihn, wie er in der Ferne kräftig in die Pedale trat, die Kamera um den Hals, eine Hand in der Mitte des Lenkers, ihren Spurensicherungskoffer in der anderen. Er warf das Fahrrad achtlos gegen die Kirchenmauer und kam zu ihr. Sie sagte nichts von dem Telefonat mit Emma, schilderte ihm aber ihr Gespräch mit Harkness.
Benton lächelte. »Mich wundert, dass er nicht gesagt hat, wenn die Zahl der Opfer weiter steigt, haben wir den Fall bald per Ausschlussverfahren geklärt. Wo soll ich mit den Fotos anfangen, MaÕam?«
Die nächste Viertelstunde arbeiteten sie konzentriert. Benton machte Aufnahmen von der Leiche mit dem darüber gebreiteten Chorrock, fotografierte das zerschmetterte Gesicht, die Kapelle, den Bereich drum herum, wobei er einer teilweise eingefallenen Trockenmauer besondere Aufmerksamkeit widmete, sowie die obere und untere Klippe. Dann gingen sie hinüber zum Chapel Cottage. Wie seltsam, dachte Kate, dass Stille so drückend sein konnte und dass der tote Boyde ihr in dieser Leere lebendiger vor Augen stand, als er es im Leben getan hatte.

K
ate stellte fest: »Das Bett ist unberührt. Er hat letzte Nacht nicht hier geschlafen. Er ist also vermutlich dort gestorben, wo wir ihn gefunden haben, in der Kapelle.«
Sie sahen sich das Badezimmer an. Die Wanne und das Waschbecken waren trocken, die Handtücher ordentlich aufgehängt. Kate sagte: »Vielleicht sind Abdrücke am Duschkopf oder der Armatur, aber das soll unsere Verstärkung überprüfen, falls wir welche kriegen. Unsere Aufgabe ist es, die Beweise zu sichern. Und das heißt, wir müssen das Cottage abschließen und versiegeln. Die beste Aussicht, DNA zu finden, haben wir bei den Handtüchern, also schicken wir die ins Labor.«
Sie hörten durch die offene Tür den Wagen kommen. Kate schaute hinaus und sagte: »Rupert Maycroft ist allein. Dr. Staveley und Jo Staveley sind bestimmt im Krankenzimmer beschäftigt. Ich bin froh, dass es nur Maycroft ist. Schade, dass er jetzt den Chorrock sieht, aber zumindest ist das Gesicht bedeckt.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 10.10.2006