09.10.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 



Ihre Blicke trafen sich. Kate schien nach Worten zu suchen. Dann sagte sie ruhig: »Ja, Sir, natürlich.«
»Boyde ist erschlagen worden. Das Gesicht ist völlig zerschmettert. Ein Stein könnte die Tatwaffe sein. Wenn ja, könnte Calcraft ihn ins Meer geworfen haben. Wahrscheinlich bin ich derjenige, der Boyde als Letzter gesehen hat, gestern Abend, kurz bevor Sie beide eintrafen. Sie haben ihn nicht bemerkt, als Sie von Combe House herübergekommen sind?«
Kate antwortete: »Nein, Sir. Es war stockfinster, und wir hatten die Augen auf den Boden gerichtet. Wir hatten eine Taschenlampe, und ich glaube nicht, dass er eine dabeihatte. Ein sich bewegendes Licht wäre uns bestimmt aufgefallen.«
Und jetzt kamen Maycroft und Staveley zielstrebig auf ihn zu. Sie trugen keine Mäntel und hatten Atemschutzmasken um den Hals hängen. In dem heller werdenden Licht, das ihm seltsam unwirklich erschien, erinnerte ihn der Geländewagen irgendwie an ein Mondfahrzeug. Er fühlte sich wie ein Schauspieler in einem bizarren Theaterprojekt, bei dem er die Hauptrolle spielen sollte, ohne die Handlung oder den Text zu kennen.

M
it einer Stimme, die er selbst kaum wieder erkannte, rief er: »Ich komme gleich, aber ich muss erst noch mit meinen Mitarbeitern sprechen.«
Sie nickten wortlos und wichen ein wenig zurück.
Dalgliesh sagte zu Kate: »Ich werde versuchen, Mr. Harkness und Dr. Glenister anzurufen, wenn ich im Haupthaus bin. Sie sollten besser auch mit ihnen sprechen. Dr. Glenister müsste die Leiche untersuchen und dann mitnehmen können, wenn sie und die Hubschrauberbesatzung sich von allen anderen fern halten. Die Entscheidung liegt bei ihr. Die Beweisstücke kann sie mit ins Labor nehmen. Falls die Möglichkeit besteht, die Küste nach der Waffe abzusuchen, sollten sie das tun. Vielleicht brauchen Sie Jagos Hilfe. Ich glaube nicht, dass er unser Mann ist. Und Sie klettern mir auf keinen Fall, das gilt für Sie beide, es sei denn, es ist ungefährlich.« Er holte sein Notizbuch heraus und schrieb etwas auf. »Würden Sie bitte Emma Lavenham unter einer dieser Nummern anrufen und versuchen, sie zu beruhigen, ehe die Sache in den Nachrichten kommt? Es könnte sein, dass ich vom Haupthaus aus nicht mehr die Gelegenheit haben werde, zu telefonieren. Und Kate, lassen Sie nicht zu, dass man mich von der Insel wegbringt, wenn Sie es irgendwie verhindern können.«
»Versprochen, Sir.«
Es entstand eine Pause, dann sagte er, als fiele es ihm schwer, die Worte über die Lippen zu bringen: »Sagen Sie ihr É« Er verstummte. Kate wartete. Schließlich sagte er: »Bestellen Sie ihr alles Liebe.«
Er bewegte sich so gut er konnte auf den Wagen zu, und die beiden Gestalten zogen die Schutzmasken vors Gesicht und kamen ihm entgegen. Er sagte: »Ich will den Wagen nicht. Ich kann gehen.«
Keiner der beiden Männer sagte etwas, aber der Geländewagen fuhr an und wendete. Dalgliesh wankte fast zehn Meter neben ihm her, dann sahen Kate und Benton, die ihm wie angewurzelt hinterherstarrten, dass er strauchelte und in den Wagen gehoben wurde.

3
K
ate und Benton blickten dem Wagen nach, bis er außer Sicht war. Dann sagte Kate: »Wir brauchen Handschuhe. Vorläufig werden wir die von Mr. Dalgliesh benutzen.«
Die Tür zum Seal Cottage stand offen, und der Spurensicherungskoffer, gleichfalls geöffnet, lag auf dem Tisch. Sie streiften Handschuhe über und kehrten zur Kapelle zurück. Benton blieb neben Kate stehen, während sie sich hinhockte und eine Ecke des Chorrocks anhob. Sie betrachtete die Masse aus geronnenem Blut und zerschmetterten Knochen, die einmal Boydes Gesicht gewesen war, dann berührte sie sanft die eiskalten totenstarren Finger. Sie war so aufgewühlt, dass sie zitterte, und sie wusste, dass sie ihre Emotionen unter Kontrolle bringen musste, dieses angewiderte Entsetzen, die Wut und vor allem das Mitleid, das schwieriger zu ertragen war als Zorn oder Ekel. Sie hörte Benton atmen, blickte aber nach unten, um ihm nicht in die Augen zu sehen.

S
ie wartete einen Moment, bis sie Gewalt über ihre Stimme hatte: »Er ist hier gestorben, und zwar wahrscheinlich kurz nachdem er gestern Abend nach Hause gekommen ist. Möglicherweise hat Calcraft den Stein - oder was immer es war - geworfen, um Boyde niederzustrecken, und dann beschlossen, die Sache zu Ende zu bringen. Hier war Hass am Werk. Oder er hat völlig die Kontrolle verloren.«
Sie beobachtete das nicht zum ersten Mal: Mörder, häufig Ersttäter, die von Entsetzen und Fassungslosigkeit angesichts ihrer eigenen Tat überwältigt wurden und dann in blinder Raserei zuschlugen, als könnten sie, indem sie das Gesicht zerstörten, die Tat selbst auslöschen.

B
enton nickte. »Den Chorrock hat Calcraft wahrscheinlich aus der Schachtel genommen und über Boyde gebreitet. Eventuell war die Schachtel bereits offen, als er in die Kapelle kam. Da ist zwar Seidenpapier, aber keine Paketkordel. Das ist irgendwie merkwürdig, MaÕam.«
Kate sagte: »Ich finde es seltsam, dass der Chorrock überhaupt hier ist. Vielleicht kann Mrs. Burbridge das erklären. Wir müssen alle Bewohner zusammenrufen, sie beruhigen, soweit das möglich ist, und klarmachen, dass wir das Sagen haben. Ich werde Sie dabei brauchen, nur können wir die Leiche nicht unbeaufsichtigt lassen. Jetzt erledigen wir erst mal die Tatortarbeit, und dann holen wir die Trage. Wir könnten ihn im Chapel Cottage einschließen, aber glücklich wäre ich damit nicht. Das ist zu weit vom Haupthaus entfernt. Natürlich könnten wir auch das Krankenzimmer benutzen, in das sie Oliver gebracht haben, aber das wäre dann gleich neben Mr. Dalgliesh.«
Benton sagte: »Unter den gegebenen Umständen, MaÕam, wird das wohl keinen der beiden stören.« Als täte ihm die sarkastische Bemerkung Leid, fügte er rasch hinzu: »Meinen Sie nicht, dass Dr. Glenister den Toten in situ wird untersuchen wollen?«
»Wir wissen ja nicht mal, ob sie überhaupt herkommen kann. Vielleicht müssen wir uns mit dem örtlichen Pathologen begnügen.«
Benton fragte: »Was halten Sie davon, wenn wir ihn in mein Apartment bringen, MaÕam? Es ist abschließbar und es wäre auch näher beim Hubschrauberlandeplatz. Bis dahin kann er auf der Trage liegen bleiben.«
Kate fragte sich, wieso sie nicht selbst darauf gekommen, sondern automatisch davon ausgegangen war, dass das Krankenzimmer im Turm praktisch die einzige Möglichkeit darstellte, die Leiche aufzubewahren. Sie blickte ihn anerkennend an. »Gute Idee, Sergeant.«

D
ann legte sie den Zipfel des Chorrocks vorsichtig wieder zurück, stand auf und blieb einen Moment stehen, um ihre Gedanken zu ordnen. So viel war zu tun, doch in welcher Reihenfolge? Sie mussten London und die Polizeibehörde von Devon und Cornwall verständigen, Fotos machen, bevor die Leiche weggeschafft wurde, die Inselbewohner zusammenrufen und anschließend einzeln vernehmen, den Tatort und Chapel Cottage untersuchen und sie mussten die Tatwaffe finden. AD hatte höchstwahrscheinlich Recht: Vermutlich war es ein Stein mit glatter Oberfläche gewesen, wie sie überall hier im sandigen Gras herumlagen, und wenn ja, hatte Calcraft ihn höchstwahrscheinlich über die Klippe geschleudert.
Sie sagte: »Wir müssen die Tatwaffe finden. Das wird unmöglich sein, falls es ein Stein war und der Täter ihn ins Meer geworfen hat. Das wiederum hängt davon ab, wie weit er werfen kann und ob er ihn vom Klippenrand oder von der unteren Klippe aus fortgeschleudert hat. Haben Sie eine Ahnung, wie die Gezeiten sind?«
»Bei mir auf dem Wohnzimmertisch lag eine Gezeitentabelle. Ich glaube, wir haben noch ein paar Stunden bis zur Flut.«
Kate seufzte: »Ich frage mich, was AD als Erstes tun würde.«
Sie hatte nur laut gedacht und nicht mit einer Antwort gerechnet, doch nach einem Moment sagte Benton: »Das ist gar nicht die Frage, MaÕam. Die Frage ist, was Sie zu tun beschließen.«

S
ie blickte ihn an und sagte: »Laufen Sie so schnell Sie können zu Ihrer Wohnung und holen Sie Ihre Kamera. Bringen Sie gleich auch noch meinen Spurensicherungskoffer mit. Schnappen Sie sich eins der Fahrräder im Stallgebäude. Ich werde Maycroft anrufen und ihn bitten, uns in zwanzig Minuten eine Trage bringen zu lassen. Dann haben wir genügend Zeit für die Fotos. Wenn wir die Leiche weggeschafft haben, sprechen wir mit den Bewohnern. Dann kommen wir wieder her und versuchen, irgendwie runter an den Küstenstreifen zu kommen. Und wir müssen Chapel Cottage durchsuchen. Calcraft hat mit Sicherheit Blutspritzer abbekommen, zumindest an Händen und Armen. Er muss sich dort gewaschen haben.«
Benton lief los, leichtfüßig und sehr schnell. Kate ging zurück zum Seal Cottage. Sie musste zwei Anrufe erledigen, und beide waren schwierig.
Als Erstes musste Harkness im Yard verständigt werden. Es dauerte eine Weile, bis sie zu ihm durchgestellt wurde, doch schließlich hörte sie, wie er sich knapp und ungeduldig meldete. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 09.10.2006