07.10.2006
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Dalgliesh sagte: »Bleiben Sie dran, ich schau mal nach.«
Er schloss die Tür auf und blickte hinüber zum Chapel Cottage. Dort rührte sich nichts. Er würde zum Cottage gehen und vielleicht auch in der Kapelle nachsehen müssen, aber beide Gebäude schienen sich irgendwie entfernt zu haben. Seine schmerzenden Beine fühlten sich an, als gehörten sie nicht zu ihm. Es würde eine Weile dauern. Er kehrte zum Telefon zurück.
»Ich geh mal nachsehen, ob er in seinem Cottage oder in der Kapelle ist.« Dann fügte er hinzu: »Das wird ein Weilchen dauern. Ich rufe Sie dann an.«
Seine regenfeste Jacke hing im Vorraum. Er zog sie über den Morgenmantel und schob die nackten Füße in feste Schuhe. Der dünne Frühnebel, der von der Landzunge aufstieg, verhieß einen weiteren schönen Tag, und die Luft roch aromatisch. Ihre Frische belebte ihn, und er setzte einen Fuß vor den anderen mit einer Sicherheit, die er nicht für möglich gehalten hatte. Die Tür zum Chapel Cottage war nicht abgeschlossen. Er öffnete sie und rief laut nach Boyde. Ihm tat die Kehle weh, aber er bekam keine Antwort. Er durchquerte das Wohnzimmer und stieg schwerfällig die Holztreppe hinauf, um im Schlafzimmer nachzuschauen. Die Tagesdecke war über das Bett gebreitet, und als er sie zurückschlug, war darunter das Bett gemacht.
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Und dann, als er den Blick hob, sah er die Leiche. Noch während er den Riegel an der Tür zurückschob, zweifelte er nicht, dass Adrian Boyde tot war. Boyde lag auf dem Steinboden, knapp einen halben Meter vor dem improvisierten Altar. Seine linke Hand ragte unter dem Rand des Chorrocks hervor, die weißen Finger steif nach oben gebogen, als winkten sie ihn näher. Der Chorrock bedeckte den Rest des Körpers, war darüber geworfen oder gebreitet worden, und durch die grüne Seide schimmerten dunkle Blutflecken. Der Klappstuhl war aufgestellt worden, und die lange Pappschachtel lag darauf, das Seidenpapier quoll heraus.
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»Maycroft, ich habe leider eine traurige Nachricht. Wir haben einen weiteren Toten. Boyde ist ermordet worden. Ich habe seine Leiche in der Kapelle gefunden.«
Das Schweigen am anderen Ende war derart absolut, dass er schon fast dachte, die Leitung wäre tot. Er wartete.
Dann kam Maycrofts Stimme. »Sind Sie sicher? Es war kein Unfall, kein Selbstmord?«
»Ich bin sicher. Es war Mord. Wir müssen alle auf der Insel so schnell wie möglich zusammenrufen.«
»Bleiben Sie bitte dran. Guy Staveley will Sie sprechen.«
Dann kam Staveleys Stimme. »Rupert hat eigentlich angerufen, weil er Ihnen und Boyde etwas sagen musste. Ich fürchte, das wird Ihre Arbeit noch mal doppelt erschweren. Dr. Speidel hat SARS. Ich hatte bereits den leisen Verdacht, als ich ihn nach Plymouth verlegen ließ, und jetzt ist die Diagnose bestätigt worden. Ich weiß nicht, ob Sie Verstärkung herholen können. Es wäre vernünftig, die Insel unter Quarantäne zu stellen, und ich stehe bereits mit den zuständigen Behörden in Kontakt. Rupert und ich sind dabei, alle telefonisch zu verständigen, und später werde ich in der großen Runde die medizinische Sachlage erläutern. Es gibt keinen Grund zur Panik. Ihre Neuigkeit macht allerdings aus einer schwierigen Situation eine Tragödie. Nun wird die medizinische Situation weitaus schwieriger zu handhaben sein.«
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Sich selbst erwähnte er nicht; das war auch nicht nötig.
Dalgliesh fragte leise: »Wie sind die Symptome?«
»Zu Anfang ganz ähnlich wie bei einer Grippe - erhöhte Temperatur, Gliederschmerzen, Mattigkeit. Der Husten kommt erst später.«
Dalgliesh antwortete nicht, aber sein Schweigen war beredt.
Staveleys Stimme wurde eindringlicher. »Rupert und ich kommen Sie mit dem Wagen abholen. Bis dahin, halten Sie sich warm.«
Dalgliesh fand die Sprache wieder. »Ich muss dringend meine Mitarbeiter verständigen. Die beiden werden den Wagen brauchen. Ich kann gehen.«
»Seien Sie nicht albern. Wir sind schon so gut wie unterwegs.«
Das Gespräch wurde unterbrochen. Dalgliesh taten alle Glieder weh, und er spürte, wie die Energie aus seinem Körper strömte, als würde selbst sein Blut dickflüssig.
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Das Schweigen am anderen Ende dauerte nicht lange. »Ja, Sir. Wir sind unterwegs.«
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Unter Schmerzen richtete er sich auf und blieb zu Füßen des Toten stehen. Es herrschte eine ominöse Stimme, nur überlagert vom Rauschen des Meeres. Er lauschte, ohne das rhythmische Donnern der Wellen gegen den unnachgiebigen Granitfels bewusst wahrzunehmen, ließ den unablässigen Klang tief in sein Bewusstsein eindringen, so dass er zum zeitlosen Klagelied für die unheilbaren Leiden der Welt wurde. Er nahm an, jeder, der ihn in dieser reglosen Haltung sah, musste davon ausgehen, dass er den Kopf zum Gebet geneigt hatte. Und in gewisser Weise war das auch so. Eine entsetzliche Traurigkeit erfüllte ihn und zugleich die Verbitterung des Scheiterns, eine Bürde, von der er wusste, dass er sie annehmen, mit ihr leben musste. Boyde hätte nicht sterben müssen. Es war kein Trost, sich zu sagen, dass nach Olivers Tod nichts auf eine mögliche weitere Tat hingedeutet hatte, dass er nicht befugt war, eine Person nur auf einen vagen Verdacht hin festzunehmen, dass er nicht einmal befugt war, jemanden daran zu hindern, die Insel zu verlassen, es sei denn, er hätte genügend Beweise gehabt, die eine Festnahme rechtfertigten. Er wusste nur eines: Boyde hätte nicht sterben müssen. Unter den wenigen Menschen auf Combe waren keine zwei Mörder. Wenn er Olivers Tod in den vergangenen drei Tagen aufgeklärt hätte, wäre Adrian Boyde noch am Leben.
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Dalgliesh rief: »Nicht näher, Kate. Sie übernehmen.«
Artikel vom 07.10.2006