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Da hätte ich kurzen Prozess gemacht, ihn einfach über Bord geworfen, wie es mit meinem Großvater gemacht worden war. Und ich hätte mir nicht gerade eine Zeit ausgesucht, wo fast niemand auf der Insel ist.«
Kate sagte: »Wir wissen jetzt, dass Oliver kurz nach acht Uhr gestorben sein muss, als Sie, wie Sie sagen, gerade die Testfahrt mit der Barkasse gemacht haben. Sagen Sie uns bitte noch einmal, in welche Richtung Sie gefahren sind.«
»Ich bin etwa eine halbe Meile raus aufs Meer gefahren. Das hat genügt, um den Motor zu testen.«
»Aus der Entfernung muss der Leuchtturm gut zu sehen gewesen sein. Der Nebel ist erst kurz vor zehn richtig dicht geworden. Da müssen Sie doch die Leiche bemerkt haben.«
»Hätte ich wahrscheinlich, wenn ich in die Richtung geschaut hätte. Ich hatte genug mit dem Boot zu tun, auch ohne das Ufer abzusuchen.« Er stand auf. »So, wenn das alles ist, würde ich jetzt gern wieder aufs Boot gehen. Sie wissen ja, wo Sie mich finden können.«
Benton sagte: »Das alles überzeugt uns nicht, Tamlyn. Warum wollten Sie Millie davon abhalten, an der Suche teilzunehmen? Warum haben Sie ihr gesagt, sie soll im Cottage bleiben. Das ergibt keinen Sinn.«

J
ago blickte ihn aus kalten Augen an. »Und wenn ich gesehen hätte, wie er da baumelt, was hätte ich denn tun sollen? Es war zu spät, um ihn zu retten. Er wäre sowieso bald gefunden worden. Und ich musste mich um meine Arbeit kümmern.«
»Dann geben Sie also zu, dass Sie gesehen haben, wie Mr. Olivers Leiche am Leuchtturm hing?«
»Ich gebe gar nichts zu. Aber eins merken Sie sich besser. Wenn ich um acht Uhr auf der Barkasse war, dann kann ich nicht im Leuchtturm gewesen sein, um ihn aufzuknüpfen. Und jetzt möchte ich bitte wieder zum Boot zurück, wenn Sie mich entschuldigen würden.«
Kate sagte so sanft wie möglich: »Ich muss Sie noch etwas anderes fragen. Und es tut mir Leid, wenn ich damit traurige Erinnerungen wecke. Ihre Schwester hat sich doch vor einigen Jahren erhängt, richtig?«
Jago bedachte sie mit einem so finsteren und intensiven Blick, dass Kate eine Sekunde lang glaubte, er würde sie schlagen, und Benton machte instinktiv eine Bewegung, die er aber sofort abbremste.
Jagos Stimme klang jedoch ruhig, obwohl seine Augen sich förmlich in Kates bohrten. »Ja. Debbie. Vor sechs Jahren. Nachdem sie vergewaltigt worden war. Nicht verführt. Vergewaltigt.«
»Hatten Sie da das Bedürfnis, sie zu rächen?«

H
ab ich ja. Ich hab zwölf Monate wegen schwerer Körperverletzung gesessen. Hat Ihnen denn, bevor Sie herkamen, keiner erzählt, dass ich vorbestraft bin? Der Kerl hat drei Wochen im Krankenhaus gelegen, plus minus einen Tag. Noch schlimmer für ihn war, dass die Sache einigen Wirbel verursachte. Das war schlecht für sein Geschäft, eine Autowerkstatt. Und seine Frau hat ihn verlassen. Ich konnte Debbie nicht zurückholen, aber ich hab ihn dafür zahlen lassen, bei Gott.«
»Wann haben Sie ihn zusammengeschlagen?«
»Einen Tag, nachdem Debbie mir alles erzählt hatte. Sie war erst sechzehn. Sie können das alles in der hiesigen Zeitung nachlesen, wenn es Sie interessiert. Er hat behauptet, er habe sie verführt, hat es jedoch gar nicht erst abgestritten. Meinen Sie etwa, ich hätte gedacht, es war Oliver? Das ist bescheuert.«
»Wir wollten nur die Fakten wissen, Mr. Tamlyn, mehr nicht.«
Jagos Lachen klang heiser. »Es heißt zwar, für Rache soll man sich Zeit lassen, aber doch nicht so lange! Wenn ich Nathan Oliver hätte töten wollen, wäre er schon vor Jahren über Bord gegangen, so wie mein Großvater.« Er wartete nicht, bis sie aufgestanden waren, sondern stürmte zur Tür und verschwand.
Als sie in den Sonnenschein hinaustraten, hüpfte er gerade geschmeidig an Bord der Barkasse.
Kate sagte: »Er hat natürlich Recht. Wenn er Oliver töten wollte, wieso hätte er da über zwanzig Jahre warten sollen? Warum das ungünstigste Wochenende auswählen und warum diese Methode? Er scheint auch nicht die ganze Geschichte mit dem Leuchtturm zu kennen. Oder er gibt es nicht zu. Er hat zum Beispiel nicht erwähnt, dass das Feuer von dem Kind gelegt worden sein könnte.«
Benton sagte: »Und selbst wenn, hätte ihn das gekümmert, MaÕam? Wer würde sich an einem älteren Mann für etwas rächen, das der als Vierjähriger getan hat? Falls Tamlyn Oliver gehasst hat - und ich glaube, das hat er -, dann wegen etwas, das noch nicht so lange her ist. Etwas Aktuellem, das ihm keine andere Wahl ließ, als jetzt zu handeln.«
In diesem Moment meldete sich Kates Funkgerät. Sie lauschte und sah Benton dabei an. Ihr Blick schien ihm alles zu sagen. Und sie beobachtete, wie sein Gesicht sich veränderte, Schock, Fassungslosigkeit und Entsetzen zeigte, genau wie ihr eigenes.
Sie sagte: »Das war AD. Wir haben einen weiteren Toten.«


2
N
achdem Kate und Benton am Vorabend gegangen waren, hatte Dalgliesh die Tür abgeschlossen, mehr aus Gewohnheit und um auch wirklich ungestört zu bleiben, als aus dem Gefühl heraus, dass ihm eine Gefahr drohte. Das Feuer war fast erloschen, trotzdem schob er einen Kaminschirm davor. Er spülte die zwei Weingläser und stellte sie in den Küchenschrank, dann überprüfte er den Korken auf der Weinflasche. Sie war noch halb voll, aber sie würden sie am nächsten Tag schon leeren. All diese kleinen Handlungen nahmen übermäßig viel Zeit in Anspruch. Er merkte, dass er auf einmal in der Küche stand und überlegen musste, warum. Natürlich, die Milch mit Honig. Er entschied sich dagegen, spürte, dass ihm vom Geruch aufgewärmter Milch schlecht geworden wäre.

D
ie Treppe kam ihm auf einmal sehr steil vor. Er umklammerte das Geländer und zog sich mühsam nach oben. Die heiße Dusche war eher eine anstrengende Tortur als eine Wohltat, doch er war froh, den säuerlichen Schweißgeruch loszuwerden. Schließlich nahm er zwei Aspirin aus dem Erste-Hilfe-Schränkchen, zog die Vorhänge des halb geöffneten Fensters zurück und stieg ins Bett. Laken und Kissenbezug waren angenehm kühl. Er drehte sich auf die rechte Seite und starrte in die Dunkelheit, vor sich das Rechteck des Fensters, das sich blass von der schwarzen Wand abhob.

A
ls er bei Tagesanbruch erwachte, waren sein Haar und das Kissen heiß und schweißfeucht. Das Aspirin hatte zumindest seine Temperatur gesenkt. Vielleicht würde ja alles gut. Aber der Schmerz in seinen Gliedern war schlimmer geworden, und eine bleierne Mattigkeit hatte ihn erfasst, die allein das Aufstehen zu einer unerträglichen Anstrengung werden ließ. Er schloss die Augen. Ein Traum hielt ihn umfangen, ließ schwache Erinnerungsfetzen durch seinen Kopf wehen wie schmutzige Lumpen, halb aufgelöst, doch immer noch klar genug, um ein Gefühl von Unbehagen zu hinterlassen.

E
r und Emma heirateten, nicht in der Kapelle des College, sondern in der Kirche seines Vaters in Norwich. Es war ein sengend heißer Tag im Hochsommer, trotzdem trug Emma ein schwarzes, hochgeschlossenes Kleid mit langen Ärmeln, das in schweren Falten hinter ihr über den Boden schleifte. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, weil es hinter einem dicht gemusterten Schleier verborgen war. Seine Mutter war da und klagte, Emma hätte lieber ihr Hochzeitskleid tragen sollen - sie hatte es für seine Braut aufbewahrt. Doch Emma weigerte sich, etwas anderes anzuziehen. Der Polizeipräsident und Harkness waren in ihren Ausgehuniformen gekommen, mit glänzenden Litzen auf ihren Schultern und Mützen. Nur er war praktisch unbekleidet. Er stand auf dem Rasen des Pfarrhauses in seiner Unterwäsche da. Offenbar schien das niemanden zu stören. Er konnte seine Sachen nicht finden, und die Kirchenglocke läutete, und sein Vater, der einen herrlichen grünen Chorrock mit Mitra trug, sagte ihm, dass alle warteten. Sie gingen in Scharen quer überden Rasen zur Kirche - Gemeindemitglieder, die er schon als Kind gekannt, Menschen, die sein Vater beerdigt, Mörder, die er ins Gefängnis gebracht hatte, Kate im rosa Kleid einer Brautjungfer. Er musste seine Sachen finden. Er musste in die Kirche. Und irgendwie musste er die Glocke zum Schweigen bringen.

D
ie Glocke. Schlagartig hellwach, begriff er, dass das Telefon klingelte.
Er taumelte die Treppe hinunter und nahm den Hörer auf. Eine Stimme sagte: »Maycroft hier. Ist Adrian vielleicht bei Ihnen? Ich versuche, ihn zu erreichen, aber in seinem Cottage meldet er sich nicht. Er kann noch nicht zur Arbeit gegangen sein.«

D
ie Stimme klang eindringlich, unnatürlich laut. Dalgliesh hätte sie fast nicht als die von Maycroft erkannt. Und dann erkannte er etwas anderes: den unverkennbar eindringlichen Klang der Angst. Er sagte: »Nein, Mr. Boyde ist nicht hier. Ich habe ihn gestern Abend gegen zehn nach Hause kommen sehen. Vielleicht macht er einen Morgenspaziergang.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 06.10.2006