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Ich werde Ihnen berichten, was mir Miss Holcombe erzählt hat, und dann machen wir für heute Schluss.«
Sie hörten ihm schweigend zu. Er saß zurückgelehnt da, ein Stück von ihnen entfernt, und sie wirkten auf ihn wie Fremde oder Schauspieler auf einer Bühne in einer sorgfältig durchkomponierten Szene: Kates helles Haar und Gesicht vom Feuerschein rötlich überhaucht; Bentons dunkler Ernst, mit dem er den Wein einschenkte.
Als er fertig war, sagte Kate: »Das ist interessant, Sir, aber es bringt uns eigentlich nicht viel weiter, außer dass es Speidels Motiv verstärkt. Andererseits kann ich ihn mir nicht als Calcraft vorstellen. Er ist hergekommen, um die Wahrheit über den Tod seines Vaters herauszufinden, nicht, um sich dafür zu rächen, was ein Kind vor über sechzig Jahren vielleicht getan hat, vielleicht oder vielleicht nicht. Das macht keinen Sinn.«
Benton wandte ein: »Es gibt allerdings auch Jago ein Motiv. Bestimmt weiß er von den Gerüchten, dass der alte Oliver seinen Großvater auf dieser letzten Fahrt erschlagen haben soll.«
Dalgliesh meinte: »O ja, die kennt er sicher seit seiner Kindheit. Anscheinend wussten fast alle Schiffer in Pentworthy Bescheid oder hatten den Verdacht. Die haben das bestimmt nicht vergessen.«

B
enton fuhr fort: »Falls er sich rächen wollte, warum dann erst jetzt? Einen schlechteren Zeitpunkt hätte er sich kaum aussuchen können, schließlich ist die Insel im Moment halb leer. Und warum der Leuchtturm und dieses bizarre Aufhängen? Er hätte doch leicht einen Unfall provozieren können, wenn er mit Oliver auf der Barkasse allein war. Das wäre dann auch irgendwie gerecht gewesen. Wir landen also immer bei derselben Frage: Warum gerade jetzt?«
Kate sagte: »Ich finde es etwas merkwürdig, dass Saul Oliver noch einmal auf die Insel wollte. Vielleicht gab es ja irgendwas Wertvolles, das er klauen oder verstecken wollte, um es sich dann nach Kriegsende zu holen. Vielleicht hatten er und Jagos Großvater das zusammen ausgeheckt, und Oliver hat ihn umgebracht, damit er die Beute nicht teilen musste. Oder geht jetzt meine Fantasie mit mir durch?«
Benton wandte ein: »Nun, selbst wenn das stimmt, hilft es uns nicht weiter. Wir untersuchen ja nicht den möglichen Mord an Jagos Großvater. Was auch immer auf dem Segelboot passiert ist, wir werden es nicht mehr herausfinden.«
Dalgliesh seufzte: »Ich glaube, dass dieser Mord seine Wurzeln in der Vergangenheit hat, aber nicht in der fernen Vergangenheit. Wir müssen uns die immer gleiche Frage stellen: Ist zwischen Nathan Olivers letztem Aufenthalt im Juli dieses Jahres und seiner Ankunft letzte Woche irgendetwas Besonderes geschehen? Was hat jemanden auf dieser Insel zu der Entscheidung veranlasst, dass Oliver sterben musste? Ich glaube, heute Abend kommen wir da nicht weiter. Ich möchte, dass Sie morgen früh als Erstes mit Jago sprechen, danach erstatten Sie mir bitte Bericht. Es wird bestimmt schwer für ihn, aber ich denke, wir müssen mehr über den Selbstmord seiner Schwester erfahren. Und da ist noch was. Wieso war ihm so daran gelegen, dass Millie nicht bei der Suche nach Oliver mitmachte? Warum sollte sie nicht mithelfen? Wollte er sie davor bewahren, die aufgehängte Leiche zu sehen? Wusste er, was sie finden würden, als man ihn bat, sich an der Suche zu beteiligen?


Buch vierIm Schutz der Dunkelheit
1
Kate wusste, wo sie Jago finden konnte - auf seinem Boot. Als sie und Benton am Dienstagmorgen kurz vor acht Uhr den steilen Kiesweg zum Hafen hinuntergingen, sahen sie seine untersetzte Gestalt auf der Barkasse hin und her gehen. Außerhalb des ruhigen Hafens war das Meer aufgewühlt. Der Wind frischte auf und trug die verschiedenen Gerüche der Insel mit sich: Meer, Erde, die erste schwache Ahnung des Herbstes. Dünne Wolken zogen wie Papierfetzen über den Morgenhimmel.
Jago hatte sie bestimmt kommen sehen, doch er schaute nur einmal rasch auf, bis sie auf den Kai gelangt waren. Als sie schließlich neben der Barkasse standen, war er in der Kajüte verschwunden. Sie warteten ab, und nach einer Weile kam er mit ein paar Kissen wieder heraus, die er auf den Sitz im Heck des Bootes warf.
Kate grüßte: »Guten Morgen. Können wir Sie mal sprechen?«
»Wenn SieÕs kurz machen.« Er fügte hinzu: »Nichts für ungut, aber ich hab zu tun.«
»Wir auch. Wollen wir in Ihr Cottage gehen?«
»Wieso bleiben wir nicht hier?«
»Im Cottage wären wir ungestörter.«
»Hier sind wir genauso ungestört. Wenn ich auf der Barkasse bin, lassen mich die Leute in Ruhe. Nun, wenn Sie wollen, meinetwegen.«
Sie folgten ihm den Kai entlang zum Harbour Cottage. Kate wusste selbst nicht genau, warum sie ihn lieber nicht auf der Barkasse befragen wollte. Vielleicht weil das Boot so eindeutig sein Terrain war; das Cottage zwar auch, aber es kam doch eher neutralem Boden gleich. Die Tür stand offen. Sonnenlicht malte Muster auf den Steinboden. Kate und Benton waren schon einmal hier gewesen, als sie ihn nach seinem Alibi gefragt hatten. Jetzt fühlte Kate sich unerklärlicherweise von dem Raum empfangen, als würde sie ihn seit Jahren kennen. Bereits bei ihrem ersten Besuch hatte das Cottage ihr seine Atmosphäre aufgedrängt: der glatt gescheuerte Tisch und die beiden Windsor-Stühle, der offene Kamin, das Korkbrett, das fast eine ganze Wand einnahm, mit der großen Inselkarte, der Gezeitentabelle, einem Plakat einheimischer Vögel, ein paar mit Heftzwecken befestigten Zetteln und daneben in einem Holzrahmen die sepiabraune vergrößerte Fotografie eines bärtigen Mannes. Die Ähnlichkeit mit Jago war unverkennbar. Vater oder Großvater? Wie schon bei ihrem ersten Besuch hätte Kate es auch jetzt nicht sagen können.

J
ago deutete auf die Stühle, und sie setzten sich. Kate warf Benton einen Blick zu, und diesmal nahm er nicht sein Notizbuch heraus.

K
ate ergriff die Initiative: »Wir möchten mit Ihnen darüber sprechen, was in den ersten Kriegsmonaten im Leuchtturm passiert ist. Wir wissen, dass drei deutsche Soldaten dort gestorben sind und dass ihre Leichen und das Boot, mit dem sie gekommen waren, im Meer versenkt wurden. Man hat uns erzählt, dass Nathan Olivers Vater Saul dafür verantwortlich war und dass auch Nathan Oliver zu der Zeit auf der Insel war. Er muss damals vier Jahre alt gewesen sein, also noch ein kleines Kind.« Sie hielt inne.
Jago sah sie an. »Sie haben höchstwahrscheinlich mit Emily Holcombe gesprochen.«
»Nicht nur mit ihr. Offenbar hat Dr. Speidel das meiste davon herausgefunden.«
Kate warf Benton einen Blick zu, und er sagte: »Aber Olivers Vater kann das alles nicht ohne Hilfe geschafft haben. Drei erwachsene Männer die Leuchtturmtreppen herunter und aufs Boot zu schleppen, ihre Leichen dann vermutlich mit Steinen zu beschweren, das Boot zu versenken. Außerdem musste Saul Oliver sein eigenes Boot dabeigehabt haben, um zurück an Land zu gelangen. War jemand bei ihm? Ihr Großvater?«
»Stimmt. Mein Großvater war hier. Er und Saul Oliver waren die Letzten, die Combe verließen.«
»Also, was ist damals geschehen?«
»Wieso fragen Sie mich das? Sie haben doch anscheinend alles von Miss Holcombe erfahren, und die wiederum hat es von Saul. Er war hier Bootsführer, als sie noch ein Kind war. Es gibt bestimmt nicht viel, was er Miss Holcombe nicht erzählt hätte.«
»Wie haben Sie von der Sache erfahren?«
»Dad hat davon gehört, als er größer wurde. Und er hatÕs mir erzählt. Außerdem gab es in Pentworthy ein paar alte Leute, die über Saul Oliver Bescheid wussten. Da wurde so manches gemunkelt.«
Benton fragte: »Was denn so?«
»Großvater ist nicht lebend nach Pentworthy zurückgekehrt. Saul Oliver hat ihn getötet und seine Leiche über Bord geworfen. Er hat gesagt, es war ein Unfall, doch die Leute wussten Bescheid. Mein Großvater hätte niemals an Bord eines Bootes einen Unfall gehabt. Er war ein besserer Seemann als Oliver. Natürlich konnte nie was bewiesen werden. So war es.«
Kate fragte: »Wie lange wissen Sie schon, dass es so war, falls es so war?«
»Es ist wahr, glauben Sie mir. Wie gesagt, damals konnte nichts bewiesen werden. Eine Leiche mit eingeschlagenem Schädel und keine Zeugen. Die Polizei hat versucht, mit dem Jungen zu reden, aber er wusste von nichts. Oder er stand unter Schock. Nun, ich brauche keine Beweise. Nathan Olivers Vater hat meinen Großvater getötet. Das war in Pentworthy hinreichend bekannt - und das ist es noch immer bei den wenigen Leuten aus der Zeit, die noch leben wie Miss Holcombe.«

N
ach kurzem Schweigen fügte Jago hinzu: »Falls Sie denken, ich hätte ein Motiv gehabt, Nathan Oliver zu töten, dann liegen Sie richtig. Und ob ich ein Motiv hatte. Ich hatte ein Motiv, seit mir die Geschichte zum ersten Mal erzählt wurde. Damals war ich ungefähr elf, ich hätte also knapp dreiundzwanzig Jahre Zeit gehabt, Großvater zu rächen, wenn ich gewollt hätte. Und ich hätte ihn nicht aufgeknüpft. Ich war oft genug allein mit ihm auf der Barkasse. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 05.10.2006