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Während der Fahrt zum Festland war er in der Kajüte. Er konnte sich an nichts erinnern, meinte sein Vater.«
»Das Motiv bereitet mir Schwierigkeiten. Hat Saul Oliver gestanden, dass er Tamlyn ermordet hat?«
»Nein. So betrunken war er dann doch nicht. Er ist bei seiner Version mit dem Unfall geblieben.«
»Doch er hat Ihnen noch etwas anderes erzählt, nicht wahr?«
Und jetzt sah sie ihm direkt in die Augen. »Er hat mir erzählt, dass es der Junge war, Nathan Oliver, der das Stroh angezündet hat. Er hat mit einer Streichholzschachtel gespielt, die er im Haus gefunden hatte. Hinterher bekam er es natürlich mit der Angst zu tun und hat abgestritten, überhaupt in der Nähe des Leuchtturms gewesen zu sein, aber Saul hat mir erzählt, dass er ihn dort gesehen hatte.«
»Und Sie haben ihm geglaubt?«

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ie zögerte. »Zu Anfang ja. Jetzt bin ich nicht mehr so sicher. Ob wahr oder nicht, im Zusammenhang mit Olivers Tod ist das ganz sicher unerheblich. Raimund Speidel ist ein kultivierter, humaner und intelligenter Mann. Er würde sich nicht an einem Kind rächen. Jago Tamlyn hat nie ein Geheimnis aus seiner Abneigung gegen Nathan Oliver gemacht, aber wenn er ihn hätte ermorden wollen, hätte er in den letzten Jahren reichlich Gelegenheit dazu gehabt. Das heißt, falls es Mord war, und ich vermute, das wissen Sie inzwischen, hab ich Recht?«
»Ja«, sagte Dalgliesh. »Wir wissen es.«
»Dann liegt der Grund vielleicht in der Vergangenheit, ganz sicher aber nicht in dieser Vergangenheit.«
Das Erzählen hatte sie ermüdet. Sie lehnte sich im Sessel zurück und schwieg.
»Ich danke Ihnen. Das erklärt, warum Speidel unbedingt Nathan Oliver am Leuchtturm treffen wollte. Das hatte mich nämlich gewundert. Schließlich ist der Turm nicht der einzige abgeschiedene Ort auf Combe Island. Haben Sie Dr. Speidel das alles auch erzählt?«
»Alles. Und wie Sie wollte er nicht glauben, dass Saul Oliver allein gehandelt hat.«
»Wusste er, dass Oliver behauptet hat, sein Sohn habe das Feuer verursacht?«
»Ja, ich habe alles weitererzählt, was Saul mir gesagt hatte. Ich fand, Dr. Speidel hatte ein Recht, es zu erfahren.«
»Und die Übrigen auf der Insel? Wie viel wissen sie von der Sache?«
»Nichts, es sei denn, Jago hat geplaudert, was ich für unwahrscheinlich halte.

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athan Oliver hat von seinem Vater nichts erfahren, und er hat nie über sein Leben auf Combe gesprochen. Bis er vor sieben Jahren anscheinend ganz plötzlich zu der Erkenntnis gelangt ist, dass eine relativ ärmliche und mutterlose Kindheit auf einer Insel den wenigen Informationen einen zusätzlichen Touch verleihen würde, die er bis dahin über sein Leben hatte an die Öffentlichkeit dringen lassen. Von da an hat er auf der Klausel im Stiftungsvertrag beharrt, die es ihm erlaubte herzukommen, wann immer ihm danach war. Bis zum April 2003, als er einer großen Sonntagszeitung ein Interview gab, hat er sich allerdings an die Absprache gehalten, dass Gäste über die Existenz von Combe Island Stillschweigen bewahren. Leider wurde die Geschichte dann von der Boulevardpresse aufgegriffen. Sie haben sie zwar nicht gerade breitgewalzt, aber es war ein ärgerlicher Vertrauensbruch und hat ganz sicher nicht zu Olivers Beliebtheit hier beigetragen.«
Dalgliesh wusste, das Gespräch war beendet. Als er sich aus seinem Sessel erhob, überfiel ihn mit einem Mal eine große Schwäche und er klammerte sich unwillkürlich an der Sessellehne fest, doch der Augenblick ging vorbei. Der Schmerz in Armen und Beinen war wieder schlimmer geworden, und er fragte sich, ob er es überhaupt bis zur Tür schaffen würde. Plötzlich sah er Roughtwood in der Tür stehen, Dalglieshs Mantel über dem Arm. Der Diener hob die Hand und schaltete die Lampe an. Das grelle Licht blendete Dalgliesh für eine Sekunde. Ihre Blicke trafen sich. Roughtwood machte nicht den geringsten Hehl aus seiner Abneigung. Er geleitete Dalgliesh zur Tür des Cottage wie ein Gefängniswärter einen Häftling, und als er »Gute Nacht, Sir« sagte, klang es in Dalglieshs Ohren ebenso drohend wie provozierend.


9
Er wusste nicht mehr, wie er es zurück zu seinem Cottage geschafft hatte. Es kam ihm so vor, als wäre sein Körper von einer Sekunde zur anderen auf unerklärliche Weise von Emily Holcombes feuerbeschienenem Wohnzimmer in diese klösterliche Leere mit den steinernen Wänden versetzt worden. Er ging zum Kamin, stützte sich dabei auf Stuhllehnen auf, kniete nieder und hielt ein Streichholz an das Anzündholz. Eine kleine, beißende Rauchwolke stieg hoch, und dann flackerte das Feuer auf. Blaue und rote Flammen schlugen aus dem knisternden Holz. Im Atlantic Cottage war ihm entsetzlich heiß gewesen. Jetzt standen ihm kalte Schweißperlen auf der Stirn. Ruhig und geschickt legte er kleine Stöckchen rund um die Flammen und baute dann eine Pyramide aus größeren Scheiten. Seine Hände schienen losgelöst von seinem Körper zu agieren, und als er die schlanken Finger näher dem auflodernden Feuer näherte, leuchteten sie durchscheinend rot, zarte, körperlose Bilder, die keine Wärme empfinden konnten.

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ach einigen Minuten richtete er sich auf und merkte erleichtert, dass er wieder sicherer auf den Beinen war. Sein Körper reagierte mit quälender Langsamkeit auf jede Willensäußerung, aber sein Verstand funktionierte einwandfrei. Er wusste, was mit ihm los war: Er hatte die Grippe. Hoffentlich hatte er nicht auch Miss Holcombe angesteckt. Soweit er sich erinnern konnte, hatte er bei ihr weder geniest noch gehustet. Er hatte ihr nur zu Anfang kurz die Hand gereicht und dann in einigem Abstand von ihr gesessen. Mit ihren achtzig Jahren hatte sie bestimmt ein gutes Abwehrsystem gegen die meisten Infektionskrankheiten, und sie hatte erst vor kurzem die jährliche Grippeschutzimpfung bekommen. Mit ein bisschen Glück würde sie gesund bleiben. Er hoffte es jedenfalls. Er sollte besser die Besprechung mit Kate und Benton absagen oder sie zumindest abkürzen und sich möglichst von den beiden fern halten.

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egen seiner Verabredung mit Miss Holcombe hatten sie ihr abendliches Treffen später als sonst angesetzt, auf zehn Uhr. Es musste bald so weit sein. Er warf einen Blick auf die Armbanduhr, es war zehn vor. Bestimmt waren sie schon unterwegs. Er öffnete die Tür und trat hinaus in die Dunkelheit. Es waren keine Sterne am Himmel zu sehen, und eine niedrige Wolkenbank verbarg den Mond. Nur das Meer erstreckte sich schwach leuchtend und friedlich unter einer schwarzen Leere, die beängstigender und elementarer war als die Abwesenheit von Licht. Leicht vorstellbar, dass selbst das Atmen in dieser trüben Luft schwer werden würde. Im Chapel Cottage brannte kein Licht, aber im Combe House waren blasse Rechtecke zu erkennen, wie Signale von einem fernen Schiff auf einem unsichtbaren Ozean.

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och dann tauchte vor ihm eine Gestalt wie ein Gespenst aus der Dunkelheit auf und strebte zielsicher auf die Tür von Chapel Cottage zu. Es war Adrian Boyde auf dem Weg nach Hause. Auf der rechten Schulter trug er eine lange schmale Kiste. Sie erinnerte an einen Sarg, konnte aber nicht schwer sein, weil er sie offenbar mühelos balancierte - fast beschwingt, wie es schien. Und dann wusste Dalgliesh plötzlich was es war. Er hatte es in Mrs. Burbridges Nähzimmer gesehen: Das musste der Karton mit dem bestickten Chorrock sein. Er beobachtete, wie Boyde ihn behutsam absetzte und die Tür öffnete. Dann zögerte er kurz, hob den Karton auf und ging damit Richtung Kapelle.
Und dann fiel Dalgliesh ein anderes Licht auf, ein kleiner Kreis wie ein auf die Erde gesunkener Mond, der sachte wankend auf ihn zusteuerte, vorübergehend hinter ein paar Bäumen verschwand und dann erneut auftauchte. Kate und Benton waren pünktlich. Er ging zurück ins Cottage und rückte drei Stühle zurecht - zwei an den Tisch, seinen eigenen an die Wand. Er stellte eine Flasche Wein und zwei Gläser auf die Tischplatte und wartete. Er würde Kate und Benton nur knapp berichten, was Miss Holcombe erzählt hatte, mehr nicht. Sobald die beiden gegangen waren, würde er heiß duschen, sich eine warme Milch mit Honig machen, ein paar Aspirin nehmen und die Infektion ausschwitzen. Das hatte er früher schon so gehalten. Kate und Benton konnten die Laufarbeit übernehmen, aber er musste einfach in der Lage sein, weiterhin die Ermittlung zu leiten - er würde dazu in der Lage sein.

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ie beiden kamen herein, zogen ihre Mäntel aus und legten sie im Vorraum ab.
Kate sah ihn an und fragte: »Alles in Ordnung, Sir?«
Sie versuchte, nicht besorgt zu klingen, denn sie wusste, wie ungern er krank war.
»Nicht ganz, Kate. Ich glaube, ich habe mir die Grippe bei Dr. Speidel geholt. Nehmen Sie bitte die beiden Stühle da vorn und kommen Sie nicht näher. Wir dürfen nicht alle krank werden. Benton, öffnen Sie bitte den Wein und legen Sie noch etwas Holz aufs Feuer. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 03.10.2006