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Bestimmt hat man Ihnen einiges über die Geschichte von Combe Island erzählt. Die Insel wurde im sechzehnten Jahrhundert von meiner Familie in Besitz genommen.Schon damals hatte das Eiland einen schlechten Ruf und wurde mit halb abergläubischen Schrecken in Verbindung gebracht. Zuvor hatten sich nämlich Piraten aus dem Mittelmeer auf ihr niedergelassen, die von hier aus die Küsten Südenglands heimsuchten, junge Männer und Frauen gefangen nahmen und sie in die Sklaverei verkauften. Tausende wurden verschleppt und auf der gefürchteten Insel gefangen gehalten, vergewaltigt und gefoltert. Bei den Einheimischen ist Combe Island bis heute unbeliebt, und wir hatten oft Schwierigkeiten, Personal zu finden. Die Mitarbeiter, die wir haben, sind allesamt loyal und zuverlässig. Sie kommen in der Mehrheit nicht von hier, weshalb sie unbelastet sind von den überlieferten Geschichten. Auch meine Familie war während der Jahre, in denen Combe uns gehörte, unbelastet davon. Mein Großvater ließ das Haus erbauen, und ich bin als Kind und später als Jugendliche jedes Jahr hier gewesen. Nathan Olivers Vater Saul war der Bootsführer und sozusagen Mädchen für alles. Er war ein guter Seemann, aber ein schwieriger Mensch, der gewalttätig werden konnte, wenn er getrunken hatte. Nach dem Tod seiner Frau musste er das Kind allein großziehen. Ich kannte Nathan also schon, als er noch ein kleiner Junge war und ich ein Teenager. Seltsamerweise verstand ich mich ganz gut mit seinem Vater, obwohl damals alles, was einer richtigen Freundschaft zwischen mir und einem der Bediensteten nahe kam, sofort unterbunden worden wäre, es war eben schlechterdings undenkbar.«
Sie unterbrach sich, hielt Dalgliesh ihr Glas hin, der ihr Wein nachschenkte. »Bei Kriegsausbruch wurde beschlossen, die Insel zu evakuieren. Sie galt zwar nicht als sonderlich gefährdet, aber es gab keinen Treibstoff mehr für die Barkasse. Trotzdem blieben wir nach September 1939 noch ein Jahr hier, erst im Oktober 1940, nachdem Frankreich verloren und mein Bruder bei Dünkirchen gefallen war, beschlossen meine Eltern, Combe zu verlassen. Wir zogen uns in das Stammhaus bei Exmoor zurück, und im Jahr darauf sollte ich nach Oxford gehen. Um die Evakuierung der wenigen Bediensteten, die wir noch hatten, kümmerten sich der damalige Verwalter und Saul Oliver. Nachdem Saul die Letzten aufs Festland gebracht hatte, fuhr er mit dem Jungen noch einmal zurück, weil er, wie er sagte, noch ein paar Kleinigkeiten zu erledigen hatte und außerdem befürchtete, dass das Haus nicht ausreichend gesichert war. Er hatte vor, nur eine Nacht zu bleiben. Er nahm sein eigenes Segelboot, nicht die Motorbarkasse, die wir damals hatten.«
Sie hielt inne und Dalgliesh sagte: »Wissen Sie das genaue Datum?«

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er zehnte Oktober 1940. Ab jetzt gebe ich das wieder, was Saul Oliver mir Jahre später erzählt hat, als er nur noch zwei Wochen zu leben hatte und nicht mehr bei klarem Verstand war. Ich weiß nicht, ob er beichten oder prahlen wollte - vielleicht beides - oder warum er ausgerechnet mich ausgesucht hat. Während und nach dem Krieg hatte ich den Kontakt zu ihm verloren. Ich unterbrach mein Studium und fuhr in London einen Krankenwagen. Dann kehrte ich wieder nach Oxford zurück und kam nur noch selten hier in die Gegend. Nathan hatte Combe längst verlassen, um einen Schriftsteller aus sich zu machen. Ich glaube, er hat seinen Vater nie wieder gesehen. Sauls Geschichte war nicht völlig neu für mich. Es hatte Gerüchte gegeben, wie es immer welche gibt. Aber ich denke, was ich von ihm gehört habe, kam der Wahrheit am nächsten.
In der Nacht des zehnten Oktober kamen drei Deutsche von den besetzten Kanalinseln und landeten auf Combe. Bis zu dieser Woche kannte ich von keinem der drei den Namen. Es war ein außerordentlich riskantes Unternehmen, wahrscheinlich das Bravourstück von drei jungen Offizieren, die entweder als Spähtrupp losgeschickt worden waren oder aus Langeweile auf eigene Faust handelten. Möglicherweise wussten sie, dass die Insel evakuiert worden war, oder sie hatten sie zufällig entdeckt. Speidel meint, dass sie vielleicht vorhatten, die deutsche Fahne auf dem stillgelegten Leuchtturm zu hissen. Das hätte sicherlich einigen Wirbel verursacht. Irgendwann nach Tagesanbruch stiegen sie auf den Leuchtturm, vermutlich, um sich einen Überblick über die Insel zu verschaffen. Während sie dort oben waren, entdeckte Saul Oliver ihr Boot. Er konnte sich denken, wo sie waren. Das Erdgeschoss des Leuchtturms diente damals als Scheune und war voller Stroh. Er zündete es an, und im Handumdrehen stand alles in Flammen. Sie konnten nicht raus auf die Plattform fliehen. Das Geländer war schon lange nicht mehr sicher gewesen, und man hatte die Tür vernagelt, um Unfällen vorzubeugen. Die drei Deutschen starben, vermutlich sind sie im Rauch erstickt. Saul wartete, bis das Feuer ausgebrannt war, entdeckte die Leichen auf halber Höhe im Turm und trug sie zurück zu ihrem Boot. Dann schleppte er es mit dem Beiboot seines Seglers raus aufs offene Meer und versenkte es.«
Dalgliesh fragte: »Gab es irgendwelche Beweise für seine Geschichte?«
»Nur die Trophäen, die er behalten hatte: ein Revolver, ein Fernglas und ein Kompass. Soweit ich weiß, ist während des Krieges kein anderes Boot auf der Insel gelandet, und nach dem Krieg wurden keine Nachforschungen angestellt. Die drei jungen Offiziere - ich vermute, sie waren Offiziere, weil sie sich ein Boot hatten besorgen können - wurden wahrscheinlich als vermisst gemeldet, und man wird wohl angenommen haben, dass sie ertrunken sind. Neben den Souvenirs, die Saul mir vor seinem Tod gab, lieferte die Ankunft von Dr. Speidel letzte Woche eine zusätzliche Bestätigung, dass die Geschichte wahr ist.«
»Was haben Sie mit den Sachen gemacht?«

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ch hab sie ins Meer geworfen. Für mich war das, was er getan hat, glatter Mord, und ich wollte nicht an etwas erinnert werden, das ich am liebsten nie erfahren hätte. Ich habe davon abgesehen, mich mit den deutschen Behörden in Verbindung zu setzen. Die Geschichte hätte den Familien der Männer keinen Trost gebracht. Die Soldaten sind einen schrecklichen und sinnlosen Tod gestorben.«
»Aber das ist doch nicht alles, oder? Saul Oliver war nicht alt und vermutlich stark, aber die drei jungen Männer die vielen Treppen hinunter und bis zum Hafen zu tragen und anschließend mit ihrem Boot zu versenken und in der Dunkelheit zurückzurudern, das ist ohne Hilfe nicht zu schaffen. War da vielleicht noch jemand mit ihm auf der Insel?«
Miss Holcombe griff nach dem Messingschürhaken und stocherte im brennenden Holz. Das Feuer loderte erneut auf. »Er hatte den kleinen Nathan dabei und Tom Tamlyn, Jagos Großvater.«
Dalgliesh fragte: »Hat Nathan Oliver je darüber gesprochen?«

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it mir nicht, und ich glaube auch mit niemandem sonst. Wenn er sich an das Geschehene erinnert hätte, dann hätte er das Wissen bestimmt irgendwie in seinem Werk verarbeitet. Nachdem das Boot versenkt und alles Belastende vernichtet worden war, fuhren Saul und das Kind zum Festland. Da war es schon fast Morgen. Tom Tamlyn kam nie dort an. Es war eine stürmische Nacht und eine raue Fahrt. Saul war ein guter Segler, sonst hätte er es nicht geschafft. Er hat erzählt, Tamlyn sei bei dem Versuch, das Boot unter Kontrolle zu bringen, über Bord gegangen. Die Leiche wurde sechs Wochen später ein Stück die Küste abwärts an Land gespült. Sie war in einem ziemlich schlechten Zustand und konnte nicht mehr viel Aufschluss geben. Allerdings war der Hinterkopf zertrümmert. Saul gab an, das sei bei dem Sturz passiert, aber der Coroner kam zu keinem endgültigen Urteil, und die Tamlyns ließen sich nicht davon abbringen, dass Tom von Oliver erschlagen worden sei, natürlich um zu verschleiern, was auf der Insel geschehen war.«

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algliesh wandte ein: »Aber es war Krieg, da wäre das doch als Selbstverteidigung gegen den Feind durchgegangen, erst recht, wenn Saul angegeben hätte, von den Deutschen bedroht worden zu sein. Immerhin waren sie ja offenbar bewaffnet. Falls Tamlyn ermordet wurde, muss es dafür einen triftigeren Grund geben. Ich frage mich zum Beispiel, warum Saul Oliver unbedingt noch mal auf die Insel wollte. Der Verwalter hatte doch bestimmt dafür gesorgt, dass das Haus gut gesichert war. Und was haben sie mit dem vierjährigen Jungen gemacht, während sie die Leichen wegschafften? Sie konnten ihn schlecht unbeaufsichtigt herumlaufen lassen.«
Miss Holcombe antwortete: »Saul hat mir erzählt, dass sie ihn im Kinderzimmer oben im Haus eingeschlossen haben. Sie haben ihm Milch und etwas zu essen dagelassen. Es gab da ein kleines Bett und reichlich Spielzeug. Saul hat ihn auf mein altes Schaukelpferd gesetzt. An das Pferd kann ich mich noch erinnern. Ich habe Pegasus heiß und innig geliebt. Er war ein riesiges Zauberpferd. Er ist mit den meisten anderen Sachen verkauft worden. Es gab ja keine Holcombe-Kinder mehr. Ich bin die Letzte meiner Familie.«
Schwang da Bedauern in ihrer Stimme mit? Dalgliesh hätte es nicht zu sagen vermocht, doch er zweifelte daran.
Sie starrte kurz ins Feuer, dann fuhr sie fort: »Als sie zurückkamen, lag der Junge am Fenster. Er schlief tief und fest. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 02.10.2006