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Träumen eine Gestalt geben
Hauptmann-Gedenkstätte »Haus Seedorn« in Kloster auf Hiddensee ist ein beliebtes Touristenziel Immer den sandigen Kirchweg entlang, der vom Dorf Kloster auf Hiddensee zum Strand führt: Kurz vor den Dünen, hinter Bäumen versteckt, liegt das Ziel vieler Tagestouristen, die von Rügen kommend die Insel besuchen: Haus »Seedorn«.
Im Sommersitz des Dichters Gerhart Hauptmann (1862 bis 1946), wo er mit seiner zweiten Frau Margarete von 1930 bis 1943 fast jährlich in den Wochen von Juni bis September lebte und arbeitete, wurde 1956 eine Hauptmann-Gedenkstätte eingerichtet. Im Rahmen der Aktion »Deutschland - Land der Ideen 2006« stand sie am 6. Juni, dem 60. Todestag des Nobelpreisträgers, im Blickpunkt.
Das Haus atmet heute noch die Aura dieses Genius', dessen frühe Werke wie »Vor Sonnenaufgang«, »Der Biberpelz«, »Die Weber« oder »Die Ratten« ihren festen Platz auf den Spielplänen deutscher Theater haben.
Die Vitrinen und Glaskästen mit Schaustücken sind an der Peripherie des Hauses, im Garten und in einem kleinen Eingangsbereich angeordnet. Durch sie betritt der Besucher die klein wirkende Wohndiele, von der links ein Kreuzgang mit gotischem Gewölbe zum Abendzimmer führt. Daran schließt sich das sehr geräumige, ganz im Bauhausstil der Zeit gestaltete Arbeitszimmer Hauptmanns an.
Ein Kruzifix aus dem 15. Jahrhundert und ein Torso aus dem 13. Jahrhundert, der Christus als König zeigt, gehören zu den erlesenen Kunstwerken. »Wir wissen, dass Hauptmann auch eine Buddha-Statue besessen hat. Sie konnte aber nicht mehr gefunden werden«, berichtet Franziska Ploetz, Leiterin des Gerhard-Hauptmann-Hauses.
Vom Abendzimmer führt eine Treppe hinab in den legendären Weinkeller des Dichters, der direkt unter dem Kreuzgang verläuft und dafür ausgelegt ist, 450 Flaschen aufzunehmen. »Trotz ausgedehnter, manchmal auch bacchantischer Abende hielt Hauptmann eisern an seinem festen Tagesablauf fest. Zwischen sechs und sieben Uhr ging er mit seiner Frau im Meer schwimmen«, gibt Franziska Ploetz Einblicke in die Gewohnheiten des Meisters. Nach dem Frühstück folgte dann der »Produktivspaziergang« in schöpferischer Einsamkeit, bei dem er meditativ arbeitete und seine Ideen im Notizbuch festhielt.
Am späten Nachmittag diktierte er. Ein beliebter Ort war dafür der Kreuzgang, aus dessen schmalen Fenstern der hochgewachsene Dichter damals noch einen von Bäumen ungestörten Blick auf die Insel und das Meer hatte, selbst aber durch die für Hiddensee typischen Sandornhecken vor neugierigen Augen geschützt war.
Bei den kleinen Gesellschaften, die sich im Abendzimmer trafen, war nicht selten der Pfarrer von Kloster, Arnold Gustav, zu Gast, zu dem die Hauptmanns - eigentlich als einzigem unter der Inselbevölkerung - ein enges freundschaftliches Verhältnis hatten. »Alle lauschten auf die Worte des Meisters«, beschreibt Gustav die Abende. Ihm ist auch zu verdanken, dass das Haus und seine Einrichtungsgegenstände unbeschadet die Jahre bis 1956 überstanden, als das »Haus Seedorn« als Hauptmann-Gedenkstätte eingeweiht worden war.
»Mein Tagwerk besteht eigentlich nur darin, dass ich über das nachdenke und es gestalte, was ich im Traum gesehen und gedacht habe«, hatte Gerhart Hauptmann ein Geheimnis seines Schaffens offenbart.
Von diesem »Nachtleben« zeugen die Schriftzüge an der Wand über dem Bett Hauptmanns in seinem Schlafzimmer im ersten Stock - durch ein kleines Fenster, das nur von ihrer Seite zu öffnen war, war es mit dem Schlafzimmer seiner Frau verbunden. Die nächtlichen Notizen wie »Schweigen ist die größte Kunst« oder »Reden entfernt« oder »Es lohnt nicht mehr«. Wörter wie »Mord«, »Krankheit«, »Krieg« gruseln regelrecht manche Besucher. Der Schriftsteller Wladimir Kaminer hatte in einem ZEIT-Artikel gestanden, er habe auf diese Wände, die mit »Albträumen voll geschmiert« sind, mit einer »Gänsehaut« reagiert.
Der Hauptmannforscher Rüdiger Bernhardt, der auch Vorsitzender der Hauptmann-Stiftung ist, die Haus »Seedorn« trägt, sieht Beziehungen zwischen den Inschriften und der Arbeit Hauptmanns an der Atridentetralogie, in den die Götter der Finsternis obsiegen.
Viele Werke zeigen direkt oder indirekt Spuren dieses über Jahrzehnte innigen Verhältnisses Hauptmanns zu »seiner« Insel. »Die versunkene Glocke«, »Die Insel der großen Mutter«, »Gabriel Schillings Flucht«, »Iphigenie in Delphi« sind nur einige von ihnen.
Schon 1885 hatte sich Gerhart Hauptmann - damals trug er noch die Berufsbezeichnung Bildhauer in dieses Inselchen bei Rügen verliebt. Damals war sie noch nicht das Urlaubsparadies von Künstlern und Intellektuellen wie in späteren Jahren. Die Liste der Gäste auf diesem »Capri der Ostsee« war lang und reicht von Albert Einstein, über Siegmund Freud, Thomas Mann, Carl Zuckmayer, Billy Wilder, Max Reinhardt zu Asta Nielsen, um nur einige zu nennen.
Hauptmann hielt meistens Distanz. Ein gemeinsamer Urlaub mit Thomas Mann - wie Hauptmann Nobelpreisträger - scheiterte: Die Manns reisten ab. Ein Reich verträgt nur einen König.
1901 hatte sich Gerhart Hauptmann im burgartigen Haus Wiesenstein in Agnetendorf im Riesengebirge niedergelassen. Aber offenbar suchte er auf Hiddensee ein Gegengewicht zur Gebirgsheimat auf einem »Granitrücken zwischen Gletscherbächen«, wie Gerhart Hauptmann schrieb.
Auf seinen Wunsch wurde Hauptmanns Leichnam, er starb 83-jährig am 6. Juni 1946 in Agnetendorf, nach Hiddensee überführt und dort am 28. Juli neben der kleinen Kirche von Pastor Arnold Gustav in seiner Franziskanerkutte vor Sonnenaufgang beerdigt - beigegeben waren ihm, seinem Wunsch entsprechend, das Neue Testament und sein Versepos: »Der große Traum«.
Wolfgang Braun

Artikel vom 07.10.2006