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Garküchen als Alternative
zu labberiger Einheitskost
Reisende können Chinas kulinarische Schätze besser individuell entdecken
Ekeln Sie sich vor Mäusen und Schlangen, würden sie niemals auch nur daran denken, einen Hund zu verspeisen? Sind Seidenraupen für Sie nur die Vorstufe zu einer chicen Bluse, nicht aber eine Delikatesse?
Keine Angst, auf eine Reise durch China muss man trotzdem nicht verzichten. Wer »organisiert« unterwegs ist, zum Beispiel mit dem Münchener Veranstalter Studiosus oder Meier's Weltreisen aus der Rewe-Gruppe, der bekommt fast nur aufgetischt, was der Deutsche aus seinem Chinarestaurant in der Heimat kennt. Für Gourmets ist das freilich der kulinarische Super-Gau, denn diese Einheitskost ist so fade und langweilig wie die Mao-Kleidung zu Zeiten der Kulturrevolution.
Die chinesischen Gastgeber wollen auf Nummer sicher gehen und keine Revolution wegen zu scharfer Kost riskieren: Also wird alles auf den größten gemeinsamen Nenner gebracht: Und das heißt beinahe täglich labberige Maissuppe, Wasserspinat, Huhn oder Fisch in überreichlich Bierteig - und zum Dessert Melonen, bis sie zu den Ohren wieder herauskommen. Die größte Frechheit: Im Bravo-Hotel von Guilin knallt die Kellnerin Pommes mit Ketchup auf den Tisch und kann als Gewürze nur Salz und Pfeffer anbieten. Victoria Cruises erdreistet sich gar, auf der Yangzi-Kreuzfahrt Hamburger und ungarisches Gulasch zu servieren. Wer sich beschwert, dem wird ein Pfefferstreuer gereicht - oder im »besten Fall« ein Schälchen Sambal Olek. Wobei letzteres im Grunde genommen aber gar kein chinesisches Gewürz ist...
Der Marktführer bei Flusskreuzfahrten auf dem Yangzi hat jetzt zu allem Überfluss auch noch Starkoch Walter Staib zum Berater für seine Flottenküche ernannt. Der gebürtige Pforzheimer, der seit vielen Jahren in den Vereinigten Staaten lebt, wird mehr Gerichte aus der modernen westlichen Küche auf die Tische von Victoria Cruises bringen und das kulinarische Angebot noch weiter verschlechtern.
Wer diese Abfertigung klaglos hinnimmt, hat offensichtlich kein wirkliches Interesse, Land und Leute authentisch zu erleben. Denn natürlich geht es auch anders. China, dieses riesige Reich mit seinen ganz unterschiedlichen Küchentraditionen, hat eine Menge zu bieten - aber diese Schätze wollen entdeckt sein!
Zwischen der milden Küche von Peking, dem süßsauren kantonesischen Stil und der würzigen Sechuan-Küche gibt es gravierende Unterschiede, die dem Studienreisenden jedoch verborgen bleiben. Es sei denn, man pfeift auf die bereits bezahlten, mit kalkulierten 80 Yuan (etwa 8 Euro) völlig überteuerten Mahlzeiten und macht sich individuell auf den Weg, um die Schätze zu entdecken. Für einen Yuan gibt es delikate Spießchen, für 5 Yuan ein Tellergericht oder eine leckere Suppe.
Angst vor gesundheitlichen Risiken muss man nicht haben, wenn man ein paar Regeln beherzigt: Nichts Rohes oder Kaltes essen, nur frisch im Wok gebratene Gerichte, heiße Suppen oder Grillgerichte. Wer auf Nummer sicher gehen will, nimmt sich eigene Stäbchen und Löffel sowie eine Schale mit. Das ist vor allem dort ratsam, wo Teller und Besteck nicht unter fließendem Wasser gereinigt werden können. Dann allerdings steht dem Essvergnügen nichts mehr im Weg - und es gibt kaum eine bessere Gelegenheit, um mit den Einheimischen in Kontakt zu kommen. Ob beim Imbiss mit gegrillter Schlange und frittierten Seidenraupen direkt im Stadtzentrum von Peking, wo in einer Seitenstraße der Wangfujing-Straße abends unzählige Garküchen aufziehen, geröstete Wachteleier und leckere Pilze auf Sechuan-Art in der Fußgängerzone von Dazu, einer würzig-scharfen Nudelsuppe in Kunming oder Nudeln mit Gemüse am Stadtparksee von Guilin - man braucht keine Angst vor Montezumas Rache zu haben.
Wer authentisch essen will, sollte die großen Hotels mit internationalem Publikum meiden. In den Garküchen wird das Angebot übersichtlich in kleinen Schälchen präsentiert und vor den Augen des Gastes zubereitet. In den Restaurants der Einheimischen wird man zwar schwerlich einen englisch sprechenden Kellner finden, aber man schaut einfach auf die Nachbartische, sucht sich etwas aus und gibt Handzeichen. Eine ganz besondere Attraktion ist der Feuertopf von Chongqing: Das kreisrunde Gefäß auf dem Gaskocher ist in der Mitte mit höllisch scharf gewürztem, heißem Öl gefüllt, der Außenring »nur« mit einer leichten Brühe. Wem der »hot pot« gar zu heiß geworden ist: Mit Bier löscht man das »Feuer« garantiert nicht. Besser sind ein Löffel Reis oder geraspelte Kokosnuss. Thomas Albertsen

Artikel vom 21.10.2006