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»Wer Bildung
umfassend fördern will, muss bei der Persönlichkeitsbildung in den
ersten Jahren
anfangen.«

LeitartikelBildungsmisere

Alarm - doch
niemand
hört hin


Von Jürgen Liminski
Gleich zweimal Alarm und niemand hört hin. Bundespräsident Köhler warnte in seiner Berliner Rede vor gravierenden Bildungsdefiziten, nur jeder zehnte Euro, den die öffentliche Hand ausgebe, fließe in den Bildungsbereich, Deutschland liege unter dem Durchschnitt der OECD-Länder.
Der deutsche Philologenverband nannte die konkreten Zahlen der Misere: eine Million ausgefallene Schulstunden pro Woche, der größte Lehrermangel seit dreißig Jahren. Der Präsident fasste es so zusammen: »Der Befund ist beschämend.«
Solch ein dramatischer Abfall kann nicht ohne Folgen bleiben. Die Investition in Wissen ergibt die beste Rendite, meinte schon vor zweihundert Jahren der Erfinder, Diplomat und Staatsmann Benjamin Franklin. So gesehen wird die Rendite künftig immer magerer ausfallen.
Man mag die Ergebnisse der Pisa-Studie und ihrer Nachfolge-Untersuchungen anzweifeln, wer die dramatischen Alarmrufe von Präsident und Verband hört, der ahnt, dass die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Schüler, Jungakademiker und Berufseinsteiger arg zu wünschen übrig lässt. Aber es geht nicht nur um die Einzelschicksale.
Wissen, aus dem hochwertige Produkte entstehen, ist unsere Wohlstandsbasis. Wissen ermöglicht Ideen und Assoziationen, die wiederum zu Geschäftsideen führen. Mit dem Mangel an Wissen gehen uns auch die Unternehmer aus. Ohne Unternehmer aber fehlen die Personen, die Arbeit schaffen und organisieren. Das Bildungsdefizit führt auch zu mehr Arbeitslosigkeit. Das Volk der Dichter und Denker, der Tüftler und Lenker entwickelt sich zu einem Heer von Anspruchsberechtigten und staatsgläubigen Untertanen, die keine Eigeninitiative mehr entwickeln.
Bildung ist eine Systemfrage. Das erste Glied der Bildungskette ist das Zuhause. Hirn- und Bindungsforschung belegen, dass in den ersten Jahren die Fundamente für das Lernen-Können, für soziale Kompetenz, für Ausdauer, für Sprachentwicklung und Kommunikation gelegt werden. Dafür bedarf es vor allem emotionaler Stabilität. Es ist die Liebe der Eltern, die in den ersten Jahren diese Stabilität schafft.
Schule kann nicht alles auffangen, was im Elternhaus schiefgelaufen ist. Wer Bildung umfassend fördern will, muss bei der Persönlichkeitsbildung in den ersten Jahren anfangen und daher auch die Elternbildung im Blick haben.
Natürlich löst das nicht das Lehrermangelproblem. Aber man würde sich mehr auf die Individualisierung und Privatisierung der Bildung konzentrieren denn auf seine weitere Verstaatlichung. Vielleicht führen die Alarmrufe wenigstens dazu, dass Eltern ihren Teil der Bildungskette ernster nehmen - für die Kinder und für die Gesellschaft.
Von der Politik ist zur Zeit nicht viel zu erwarten. Sie hat uns ja in diese Bildungsmisere geführt, und ihr Schweigen auf die Alarmrufe bezeugt ihre Rat-und Hilflosigkeit.

Artikel vom 27.09.2006