27.09.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Von Vlotho über die Weser
nach Mallorca und zurück

Ernst Gaus berichtet von seinem Leben als Aussteiger

Von Nadine Kaminski
(Text und Foto)
Brackwede (WB). Seit Ernst Gaus vor mehr als 50 Jahren seiner Heimat, einem 280-Seelen-Dorf in Niedersachsen, den Rücken kehrte, um sein Leben nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten, hat er eine wahre Odyssee hinter sich gebracht. Wie er vom Zimmermann zum Polizisten wurde und es ihn später von Bielefeld nach Mallorca verschlug, berichtete der 74-Jährige im Erzählcafé im Brackweder Gemeindehaus.

Als Kind lebt Ernst Gaus auf einem Hof im Kreis Gifhorn. Als sein Vater 1948 aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrt, ist er nicht davon begeistert, dass sein Sohn inzwischen in der Stadt zur Schule geht. Er nimmt den Jungen selbst in die Zimmermannslehre. Doch Gaus, der dem Vater nur aus Pflichtgefühl gehorcht, will viel lieber »Schutzmann« werden. Mit dem Gesellenzeugnis in der Tasche, vertraut er sich zunächst nur seinem Großvater an, der ihn versteht und unterstützt. Erst als er die Aufnahmeprüfung bestanden hat und nach Münster auf die Polizeischule soll, weiht er seine Eltern ein. Die sind schockiert, müssen ihn aber wohl oder übel ziehen lassen.
Als der junge Mann 1956 in den Polizeidienst entlassen und in Bielefeld eingesetzt wird, ist das für ihn wie ein Sprung ins kalte Wasser. Theorie und Praxis klaffen zunächst weit auseinander: »Die Verantwortung liegt plötzlich bei einem allein. Da kann man nicht erst noch im Lehrbuch nachschlagen oder jemanden um Rat bitten.« Mit der Zeit lebt er sich jedoch gut ein, heiratet und bekommt zwei Töchter.
Nach ein paar Jahren im Dienst lässt ihn dann plötzlich seine Gesundheit im Stich. Nieren und Bandscheibe rebellieren. Schließlich entscheiden die Ärzte, dass Gaus den Polizeiberuf nicht mehr ausüben kann, nachdem ihm seine Beine bei einem Einsatz den Dienst versagt haben. Das stürzt den sonst so lebensfrohen Ordnungshüter in eine tiefe Krise, während der er alle Konstanten seines Lebens in Frage stellt und auch an sich selbst zweifelt.
Die kleine Pension reicht nicht aus, um der Familie weiterhin den gewohnten Lebensstandard zu ermöglichen. Also macht sich der Frührentner erneut auf Arbeitssuche. »Ich war überrascht, was sich da alles finden ließ«, erinnert er sich. Unter anderem jobbt Gaus als Tennislehrer, Kaufhausdetektiv und Sportlehrer an der Berufsschule. Außerdem erfüllt er sich seinen Kindheitstraum und macht den Segelschein. Von seinem Ersparten leistet er sich sein eigenes Segelboot, kreuzt damit durch die Ostsee. Außerdem unterzieht er sich 1979 einer Operation, durch die sich sein gesundheitlicher Zustand endlich bessert.
Doch die innere Unruhe bleibt. Seine Ehe scheitert nach 25 Jahren, Freunde enttäuschen ihn durch Missgunst und Neid auf das Erreichte. »Mich hielt hier plötzlich nichts mehr.« So fasst er sich schließlich ein Herz und segelt im Frühling des Jahres 1987 dem Ungewissen entgegen. Von Vlotho aus, wo der Segler vor Anker liegt, geht es an die französische, englische, portugiesische und spanische Küste. »In den ersten Nächten auf See lag ich noch seekrank an Deck, haderte mit meinem Leben und bereute meine Entscheidung.« Doch mit der Übelkeit gehen auch die Zweifel dahin, und Ernst Gaus verbringt 82 Tage auf See, in denen er die Sterne bewundert, Stürme aussitzt und mit Delfinen plaudert. Als er schließlich sein Ziel, Mallorca, erreicht, entschließt sich Gaus, einfach dort zu bleiben. Als Skipper und durch seine Qualitäten als Zimmermann kommt er gut über die Runden und lebt ganze zehn Jahre auf der Insel. »Irgendwann wurde ich dann aber einfach seemüde.« Gaus verkauft sein Schiff, macht sich mit einem Wohnwagen auf nach Griechenland und bleibt dort weitere fünf Jahre. Letztendlich ruft die Heimat allerdings doch. Seit zwei Jahren ist Ernst Gaus wieder im Bielefelder Süden sesshaft. Hier schreibt er an seinen Memoiren. Schließlich gibt es noch allerhand zu erzählen - und vielleicht auch Seemannsgarn zu spinnen.

Artikel vom 27.09.2006