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Zermalmt zwischen
gestern und morgen

Hebbels Klassiker stellt die Werte der Familie in Frage

Von Burgit Hörttrich
Bielefeld (WB). SCHANDE. Mit großen Buchstaben geschrieben. Das ist es, was Meister Anton am meisten fürchtet. Mit dieser Furcht treibt er seine Tochter Klara in den Tod - und er selbst bleibt uneinsichtig in die eigene Schuld bis zum Schluss. »Maria Magdalena«, Friedrich Hebbels »bürgerliches Trauerspiel«, hatte im Bielefelder Theater am Alten Markt (TAM) Premiere.

»Maria Magdalena« wurde 1846 zum ersten Mal aufgeführt. Auf den ersten Blick scheinen, 160 Jahre später, die Probleme, die die Menschen auf der Bühne umtreiben, weit weg. Auf den zweiten Blick dann sind die Gefühle zwischen den Akteuren sehr aktuell. Zwei Wertkonzepte stehen einander gegenüber: das christlich dogmatische Weltbild von gestern und die am Kapital orientierte Freiheit von morgen. Zwischen beidem wird Klara, eindrucksvoll gespielt von Ines Buchmann, zermalmt. Die Gespräche und vor allem das mitunter quälend lange Schweigen zwischen Klara und ihrem Vater (Hans Fleischmann) gehört zu dem Eindrucksvollsten der Inszenierung von Olga Wildgruber. Jeder misstraut jedem und bestimmt den eigenen Wert über das, was die anderen denken. Klatsch und Tratsch und üble Nachrede. Jeder glaubt über jeden Bescheid zu wissen - aber während des Stückes weiß das Publikum längst mehr als die Akteure auf der Bühne.
Die Handlung: Klara wird von ihrer Mutter (Therese Berger) gedrängt, sich ihre Jugendliebe, den Sekretär, aus dem Kopf zu schlagen und sich um ihresgleichen zu bemühen. Sie verlobt sich mit dem Schreiber Leonard, Karrierist ohne jedes Mitgefühl (höchstens mit sich selbst), gespielt von Andreas Hilscher. Als der Sekretär zurückkehrt, erpresst Leonard Klara mit dem Heiratsversprechen; Klara wird schwanger. Leonard erfährt jedoch, dass er keine Mitgift zu erwarten hat und nutzt die Verhaftung von Klaras Bruder (Julian M. Grünthal), einem wenig mitfühlenden Egoisten, die Verlobung zu lösen. Die Mutter stirbt vor Schreck, als sie von der Verhaftung ihres Lieblings hört.
Der Sekretär (John Wesley Zielmann) will Klara aus Liebe heiraten, aber zunächst duelliert er sich mit Leonard, um ihre Ehre wiederherzustellen. Die Männer sterben. Als der Vater ihr droht, sich umzubringen, wenn sie ihm Schande macht, stürzt sich Klara in den Brunnen. Es soll wie ein Unglücksfall aussehen, der Selbstmord wird aber beobachtet. Für den Vater wieder Schande, Schande, Schande. Der Klassiker stellt den Wert der Familie in Frage. Die Figuren handeln immer in der Hoffnung, alles werde sich noch zum Besseren wenden - nur, um die Lage noch hoffnungsloser zu gestalten. Das Bürgertum macht sich selbst das Leben zur Hölle. Und das der anderen auch. Großes Pathos, dazwischen Sätze, die heute geschrieben sein könnten.

Artikel vom 26.09.2006