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Kates Stimme war bewusst kontrolliert. »Um wie viel Uhr war das? Möglichst genau, bitte.«
»Kurz nachdem ich wieder nach Hause gekommen war. Auf jeden Fall vor acht. Ich weiß das, weil ich mir normalerweise die Acht-Uhr-Nachrichten anhöre, wenn ich hier bin.«
»Wieso haben Sie das nicht schon früher gesagt?«
»Sie meinen, als wir zusammen in der Bibliothek waren? Da erschien es mir nicht so wichtig. Ich hab gedacht, ich würde mich lächerlich machen. Ich meine, wieso sollte Miss Oliver kein Feuer im Kamin machen?«
Es war an der Zeit, die Vernehmung zu beenden und Dalgliesh im Seal Cottage Bericht zu erstatten. Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her, dann sagte Kate: »Ich glaube nicht, dass ihm jemand von den verbrannten Druckfahnen erzählt hat. Das müssen wir überprüfen. Ich frage mich nur, wieso eigentlich nicht. Vielleicht hat er Recht und sie sehen ihn nicht als Insulaner. Man erzählt ihm nichts, weil er nie dazugehört hat. Aber wenn Padgett vor acht Uhr gesehen hat, wie Rauch aus dem Peregrine Cottage aufstieg, dann ist er aus dem Schneider.«


7
Nach dem Frühstück am Montagmorgen rief Dalgliesh im Murrelet Cottage an und sagte Mark Yelland, dass er ihn gern sprechen würde. Dr. Yelland erwiderte, dass er gerade einen Spaziergang machen wollte und dass er, falls es nicht dringend sei, kurz vor Mittag ins Seal Cottage kommen würde. Dalgliesh hatte eigentlich vorgehabt, sich zum Murrelet Cottage zu begeben, erhob aber keine Einwände, da es Yelland wahrscheinlich lieber war, in seiner Privatsphäre ungestört zu bleiben. Dalgliesh hatte eine unruhige Nacht gehabt, mal die Bettdecke beiseite geschlagen, weil ihm unangenehm heiß war, um dann eine Stunde später vor Kälte zitternd wieder aufzuwachen. Er hatte verschlafen und war erst kurz nach acht mit sich anbahnenden Kopfschmerzen und schweren Gliedern aufgewacht. So wie viele Menschen mit robuster Gesundheit betrachtete er jede Krankheit als persönlichen Affront, dem man am besten begegnete, indem man sich weigerte, ihn zur Kenntnis zu nehmen. Es gab nur wenig, was sich nicht durch einen flotten Marsch an der frischen Luft beheben ließ. Doch an diesem Morgen bedauerte er es nicht, dass Yelland den Fußmarsch übernahm.
Mark Yelland traf pünktlich ein. Er trug Wanderschuhe, Jeans und Jeansjacke und hatte einen Rucksack dabei. Dalgliesh dankte ihm für sein Kommen. Er ließ die Cottagetür offen, so dass ein Streifen Sonnenlicht hereinfiel. Yelland stellte seinen Rucksack auf den Tisch, setzte sich aber nicht.
Ohne weitere Umstände begann Dalgliesh: »Am Samstagmorgen hat jemand die Druckfahnen von Olivers neuem Roman verbrannt. Ich muss Sie fragen, ob Sie das waren.«

Y
elland nahm die Frage gelassen auf. »Nein, das war ich nicht. Ich bin manchmal wütend, voller Groll, rachsüchtig, und auch die meisten anderen menschlichen Unzulänglichkeiten sind mir nicht fremd, aber ich bin nicht kindisch, und ich bin nicht dumm. Die Druckfahnen zu verbrennen hätte nicht verhindert, dass der Roman erscheint. Wahrscheinlich hätte es höchstens einen minimalen Mehraufwand oder eine Verzögerung gebracht.«
Dalgliesh entgegnete: »Dennis Tremlett sagt, dass Oliver in den Fahnen wichtige Änderungen vorgenommen hat. Die sind jetzt verloren.«
»Das ist schade für die Literatur und für seine Fans, aber ich glaube kaum, dass es von welterschütternder Bedeutung ist. Die Druckfahnen zu verbrennen war offensichtlich ein persönlicher Racheakt, doch nicht von mir. Ich war am Samstag im Murrelet Cottage, bis ich gegen halb neun zu einer Wanderung aufgebrochen bin. Ich war mit meinen Gedanken woanders, jedenfalls nicht bei Oliver oder seinem Roman. Ich wusste nicht, dass er die Druckfahnen bei sich hatte. Nun werden Sie wahrscheinlich einwenden, dass man davon hätte ausgehen können.«
»Und sonst ist seit Ihrer Ankunft auf Combe Island nichts passiert, was ich Ihrer Meinung nach wissen sollte? Denken Sie bitte noch mal darüber nach. Auch vermeintliche Kleinigkeiten können von Bedeutung sein.«

V
on der Auseinandersetzung beim Dinner am Freitagabend habe ich Ihnen ja bereits erzählt. Jetzt, wo Sie fragen, fällt mir ein, dass ich am Donnerstagabend kurz nach zehn Zeuge war, wie jemand Emily Holcombe besucht hat. Ich kam gerade von einem Rundgang um die Insel zurück. Es war natürlich dunkel, und ich habe nur die Umrisse ausmachen können, als Roughtwood die Tür öffnete. Es war keiner von den Inselbewohnern, daher nahm ich an, dass es Dr. Speidel sein musste. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass das für Ihre Untersuchung irgendwie von Bedeutung ist, aber das ist wirklich das einzig Ungewöhnliche, woran ich mich erinnere. Ich habe gehört, dass Dr. Speidel jetzt im Krankenzimmer liegt, aber ich hoffe doch, dass er bestätigen kann, was ich gesagt habe. Ist das alles?«
Dalgliesh bejahte, allerdings mit seinem üblichen Zusatz: »Vorläufig«.
In der Tür zögerte Yelland kurz. »Ich habe Nathan Oliver nicht getötet. Man kann nicht von mir erwarten, dass mich sein Tod zutiefst betrübt. Ich denke, es sind nur sehr wenige Menschen, um die wir aufrichtig trauern. Und er zählt für mich ganz sicher nicht dazu. Doch sein Tod tut mir Leid. Ich hoffe, Sie finden heraus, wer ihm das angetan hat. Sie wissen, wo sie mich finden, wenn Sie mich noch einmal sprechen müssen.«
Und damit ging er.
Das Telefon klingelte kurz bevor Kate und Benton eintrafen. Dalgliesh griff nach dem Hörer und hörte die Stimme von Rupert Maycroft.

I
ch fürchte, Sie werden nicht mehr mit Dr. Speidel sprechen können, und das vermutlich eine ganze Weile nicht. In der Nacht ist seine Temperatur beunruhigend gestiegen, und Guy lässt ihn ins Krankenhaus nach Plymouth bringen. Für ernste Krankheiten sind wir hier nicht eingerichtet. Der Hubschrauber müsste jeden Moment da sein.«
Dalgliesh legte auf und hörte fast gleichzeitig das ferne Dröhnen. Als er nach draußen vor das Cottage trat, sah er Kate und Benton, die in die Luft starrten, und den Hubschrauber, der sich wie ein widerlicher, schwarzer Käfer vor dem zartblauen Himmel abhob.
Kate sagte: »Ich dachte, der Hubschrauber wäre nur für Notfälle. Wir haben doch keine Verstärkung angefordert.«
Dalgliesh erklärte: »Das ist ein Notfall. Dr. Speidels Zustand hat sich verschlechtert. Dr. Staveley meint, er ist im Krankenhaus besser aufgehoben. Pech für uns, aber noch bedauerlicher für Dr. Speidel.«

D
er Kranke war offenbar mit erstaunlicher Geschwindigkeit aus dem Haus gebracht worden, denn schon wenige Minuten nachdem der Hubschrauber gelandet war, beobachteten sie schweigend, wie er wieder aufstieg und im Tiefflug über sie hinwegschwebte.
»Da verschwindet einer unserer Verdächtigen«, sagte Kate.
Dalgliesh dachte: Nicht gerade der Hauptverdächtige, aber ganz sicher einer, dessen Aussage für die Klärung der Tatzeit entscheidend ist. Und außerdem der eine, der mir nicht alles gesagt hat, was er weiß. Sie drehten sich um und gingen ins Cottage, während der Lärm in der Ferne verhallte.


8
Dalgliesh war für acht Uhr abends mit Emily Holcombe verabredet, und um halb acht löschte er die Lichter im Seal Cottage und zog die Tür hinter sich zu. Er war in einem Pfarrhaus in Norfolk aufgewachsen, wo ein sternenloser Himmel nicht außergewöhnlich war, doch eine solche Finsternis hatte er selten erlebt. In den Fenstern von Chapel Cottage brannte kein Licht. Adrian Boyde war vermutlich bereits zum Dinner ins Haupthaus gegangen. Auch in den weiter entfernten Cottages war kein Lichtpunkt zu entdecken, der ihm hätte zeigen können, dass er die richtige Richtung einschlug. Er blieb kurz stehen, um sich zu orientieren, dann knipste er seine Taschenlampe an und starrte in die Dunkelheit hinein. Der Schmerz in seinen Gliedern war den ganzen Tag über kaum abgeebbt, und ihm kam der Gedanke, dass er sich von Speidel die Grippe eingefangen haben könnte und, falls ja, ob es dann überhaupt vertretbar war, Miss Holcombe zu besuchen. Aber er hatte weder Schnupfen noch Husten. Er würde so weit wie möglich von ihr Abstand halten, und außerdem hatte sie ja Speidel selbst im Atlantic Cottage empfangen, wenn Yelland Recht hatte.
Wegen des ansteigenden Geländes, das das Atlantic Cottage zur Landseite hin schützte, hatte er schon fast die Tür erreicht, ehe er die Lichter in den unteren Fenstern sah. Roughtwood führte ihn, mit der Herablassung eines Butlers, der einen Pächter hereinlässt, der kommt, um die Pacht zu zahlen, ins Wohnzimmer. Der Raum wurde nur vom Kaminfeuer und einer einzigen Tischlampe erhellt. Miss Holcombe saß am Kamin, die Hände reglos im Schoß. Der Feuerschein ließ die Seide ihrer hochgeschlossenen Bluse matt schimmern und den schwarzen Samtrock, der ihr in weichen Falten bis auf die Knöchel fiel. Als Dalgliesh leise eintrat, schien sie aus einer Träumerei hochzuschrecken, und sie gab ihm nur flüchtig die Hand, bevor sie ihm bedeutete, in dem Sessel ihr gegenüber Platz zu nehmen. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 29.09.2006