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Im Wohnzimmer ließ nichts auf irgendwelche Interessen - oder überhaupt irgendeine Aktivität - schließen, und mit Ausnahme von ein paar Taschenbüchern auf dem oberen Brett eines Eichenregals und einer Reihe von Porzellanfiguren auf dem Kaminsims war der Raum bis auf das Mobiliar praktisch leer. Das wiederum war überwiegend aus schwerem Eichenholz und bestand in der Hauptsache aus einem ausziehbaren Tisch mit wuchtigen Beinen, der in der Mitte des Raumes thronte, sechs Esszimmerstühlen ähnlicher Machart und einem passenden massigen Sideboard, dessen Türen und Aufsatz mit kunstvollen Schnitzereien verziert waren. Sonst gab es nur noch eine Bettcouch unter dem Fenster, über die eine Patchworkdecke gebreitet war. Benton fragte sich, ob die bettlägerige Mrs. Padgett hier gepflegt worden war, und das einzige Schlafzimmer denjenigen zur Verfügung gestanden hatte, die sie nachts versorgt hatten. Den Raum umgab zwar keine Aura von Krankheit, aber es roch muffig, vielleicht weil alle drei Fenster geschlossen waren.
Padgett rückte drei der Stühle zurecht, und sie setzten sich ihm gegenüber. Zu Bentons Erleichterung bot Padgett ihnen keinen Kaffee oder Tee an, sondern saß da, die Hände unter dem Tisch, wie ein gehorsames Kind, und sah sie aus blinzelnden Augen an. Sein dünner Hals ragte aus einem dicken Pullover, dessen kompliziertes Zopfmuster sein blasses Gesicht und die zarten Knochen in dem hohen Schädel betonte, der durch das kurz geschorene Haar schimmerte.

K
ate begann: »Wir würden mit Ihnen gern noch einmal durchgehen, was Sie uns am Sonntag in der Bibliothek erzählt haben. Vielleicht ist es am einfachsten, wenn Sie uns der Reihe nach schildern, was Sie am Samstagmorgen nach dem Aufstehen gemacht haben.«
Padgett begann einen Vortrag, der wie auswendig gelernt klang. »Ich bin dafür zuständig, das Essen auszuliefern, das die Gäste am Vorabend bestellt haben, und das habe ich um sieben Uhr gemacht. Der Einzige, der etwas brauchte, war Dr. Yelland im Murrelet Cottage. Er wollte für ein kaltes Mittagessen Milch und Eier haben und hatte außerdem um eine Auswahl von CDs aus der Musikbibliothek gebeten. Sein Cottage hat einen Vorraum wie die meisten anderen auch, und da hab ich ihm das Essen hingestellt. So lautete meine Anweisung. Ich habe Dr. Yelland nicht gesehen, und um Viertel vor acht war ich mit dem Wagen zurück am Haupthaus. Ich hab ihn an seinem üblichen Platz im Hof abgestellt und bin wieder hierher gekommen. An einer Uni in London hab ich mich um einen Studienplatz für Psychologie beworben, und die wollten noch eine schriftliche Begründung von mir haben, warum ich das Fach studieren will. Ich hab kein besonders gutes Abi gemacht, aber das ist denen anscheinend nicht so wichtig. Ich hab hier im Cottage gearbeitet, bis Mr. Maycroft kurz nach halb zehn angerufen hat, dass Mr. Oliver vermisst werde und ich bei der Suche mithelfen sollte. Es kam zwar gerade Nebel auf, doch ich bin natürlich trotzdem losgegangen. Die anderen standen schon auf dem Hof vor Combe House. Ich war direkt hinter Mr. Maycroft am Leuchtturm, als sich der Nebel plötzlich lichtete und wir die Leiche entdeckten. Dann haben wir Millie schreien hören.«
Kate fragte: »Und Sie sind ganz sicher, dass Sie, bis Sie zu dem Suchtrupp stießen, niemanden gesehen haben, weder Mr. Oliver noch sonst wen?«
»Ja, wie ich schon gesagt habe. Ich hab niemanden gesehen.«
In diesem Moment klingelte das Telefon. Padgett sprang rasch auf. Er sagte: »Da muss ich rangehen. Das Telefon ist in der Küche. Wir haben es verlegen lassen, damit Mutter nicht gestört wurde.«
Er eilte zur Tür hinaus und zog sie hinter sich zu.
Kate seufzte: »Wenn das Mrs. Burbridge ist, kann das nicht lange dauern.«

E
r kam jedoch nicht gleich zurück. Kate und Benton standen auf, und Kate ging zum Bücherregal hinüber. »Offenbar die Taschenbücher seiner Mutter, überwiegend populäre Liebesromane. Aber ein Nathan Oliver ist dabei: Die Sandbank von Zeebrügge. Sieht aus, als wäre es gelesen worden, wenn auch nicht oft.«

Benton sagte: »Das klingt wie ein Reißer. Nicht sein üblicher Stil.« Er betrachtete die Porzellanfigürchen auf dem Kaminsims. »Die haben vermutlich auch der Frau Mutter gehört, also warum sind sie noch hier? Die wären doch bestimmt ebenfalls für diesen Wohltätigkeitsverein in Newquay in Frage gekommen, es sei denn, Padgett behält sie aus sentimentalen Gründen.«
Kate trat neben ihn. »Man sollte meinen, die wären die Ersten gewesen, die über Bord gehen.«
Er nahm eine der Figuren in die Hand und drehte und wendete sie nachdenklich. Es war eine Frau, die einen Reifrock und einen mit Bändern besetzten Hut trug und mit einer dünnen Hacke einen Gartenweg von Unkraut befreite.
Kate bemerkte: »Nicht unbedingt die passende Arbeitskleidung, was? Die Schuhe würden außerhalb des Schlafzimmers keine fünf Minuten halten, und beim ersten Windhauch fliegt ihr der Hut runter. Was geht Ihnen durch den Kopf?«
Benton lächelte: »Nur die übliche Frage, denke ich. Wieso finde ich das geschmacklos? Ist das nicht eine Art Kultursnobismus? Ich meine, gefällt es mir nicht, weil ich dazu erzogen worden bin, diese Wertung zu fällen? Immerhin ist es gut gemacht. Es ist kitschig, aber es gibt so manche gute Kunst, die man als kitschig bezeichnen könnte.«
»Welche denn?«
»Na ja, Watteau zum Beispiel. Oder DickensÕ Raritätenladen, wenn Sie an Literatur denken.«
Kate nickte. »Stellen Sie die lieber wieder hin, sonst machen Sie sie noch kaputt. Aber mit dem Kultursnobismus haben Sie Recht.«
Benton stellte die Figur wieder an ihren Platz, und sie kehrten zum Tisch zurück.

D
ie Tür öffnete sich und Padgett setzte sich erneut zu ihnen. Er sagte: »Entschuldigen Sie. Das war die Uni. Ich habe beantragt, mich früher anfangen zu lassen. Das neue Semester hat schon begonnen, aber gerade eben erst, und vielleicht machen sie ja noch eine Ausnahme. Das hängt wohl auch davon ab, wie lange Sie mich hier behalten möchten.«
Wie Benton wusste, hätte Kate darauf hinweisen können, dass die Polizei vorläufig nicht befugt war, Padgett auf der Insel festzuhalten, doch das tat sie nicht. Stattdessen sagte sie: »Darüber müssen Sie mit Commander Dalgliesh reden. Wenn wir sie in London vernehmen müssten, vielleicht sogar an der Uni, wäre das natürlich für Sie und vermutlich auch für die Universität unangenehmer, als wenn wir hier miteinander reden.«

E
s war ein wenig unaufrichtig, dachte Benton - und wahrscheinlich gerechtfertigt.
Sie gingen im Einzelnen durch, was nach dem Auffinden der Leiche geschehen war, und Padgetts Schilderung stimmte mit der von Maycroft und Dr. Staveley überein. Padgett hatte Jago geholfen, das Seil von Nathan Olivers Hals zu entfernen, und er hatte mitbekommen, wie Maycroft danach Jago anwies, es zurück an den Haken zu hängen, doch danach hatte er es weder berührt noch gesehen. Er wusste auch nicht, ob jemand später noch in den Leuchtturm gegangen war.
Schließlich sagte Kate: »Wir wissen, dass Mr. Oliver wütend auf Sie war, weil Ihnen seine Blutprobe über Bord gefallen ist, und man hat uns erzählt, dass er Sie auch sonst oft kritisiert hat. Stimmt das?«
»Ich konnte ihm nichts recht machen. Natürlich hatten wir nicht allzu oft miteinander zu tun. Wir sollen nicht mit den Gästen reden, wenn es nicht deren ausdrücklicher Wunsch ist. Und er war ja nun mal ein Gast, auch wenn er sich benommen hat, als gehörte er hierher und hätte irgendein Recht, auf der Insel zu sein. Aber wenn er mal mit mir gesprochen hat, dann meist um sich zu beschweren. Manchmal waren er oder Miss Oliver mit den Lebensmitteln unzufrieden, die ich gebracht hatte, oder er hat mir vorgeworfen, ich hätte die falschen Sachen geliefert. Ich hab einfach gespürt, dass er mich nicht mochte. Er ist É war einer dieser Männer, die einfach jemanden brauchen, auf dem sie rumhacken können. Aber ich hab ihn nicht umgebracht. Ich könnte keiner Fliege etwas zuleide tun, geschweige denn einem Menschen. Ich weiß, dass einige es ganz gerne sehen würden, dass ich es gewesen wäre, weil ich mich hier nie richtig heimisch gefühlt habe. Das meinen die nämlich mit ihren Kommentaren, dass ich kein echter Insulaner bin. Ich wollte auch nie einer werden. Ich bin hergekommen, weil meine Mutter das unbedingt wollte, und ich bin froh, wenn ich hier endlich weg bin, was Neues anfange, eine ordentliche Ausbildung mache. Ich hab was Besseres verdient, als hier Mädchen für alles zu spielen.«

D
ie Mischung aus Selbstmitleid und Trotz war unsympathisch; Benton musste sich in Erinnerung rufen, dass das Padgett allerdings noch lange nicht zum Mörder machte. Er fragte: »Und sonst haben Sie uns nichts zu erzählen?«
Padgett blickte nach unten auf die Tischplatte und sagte: »Nur das mit dem Rauch.«
»Was für Rauch?«
»Na ja, im Peregrine Cottage muss schon jemand auf gewesen sein. Die hatten da Feuer an. Ich war im Schlafzimmer und hab aus dem Fenster geschaut und den Rauch gesehen.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 28.09.2006