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Sie hatten die Angewohnheit, erst später über die Musik zu reden. Jetzt, wo sie noch in ihren Köpfen nachhallte, gingen sie schweigend nebeneinander her, die Augen auf die glitzernden Lichter gerichtet, die wie eine Perlenkette am anderen Ufer aufgereiht waren. Kurz vor der Brücke blieben sie stehen und stützten sich auf die steinerne Brüstung, um auf den dunklen, pulsierenden Fluss zu schauen, dessen Oberfläche so weich und geschmeidig aussah wie das Fell eines Tieres.
Emma gab sich London hin. Sie liebte die Stadt nicht mit der gleichen leidenschaftlichen Engagiertheit wie Dalgliesh, der die beste und die schlechteste Seite seiner Wahlheimat kannte, sondern mit einer steten Zuneigung, die zwar ebenso stark war wie jene, die sie für ihre Geburtsstadt Cambridge empfand, dabei jedoch völlig anders geartet. London wahrte selbst denen gegenüber, die es liebten, einen Teil seines Mysteriums. London, das war Ziegel und Stein gewordene Geschichte, in Buntglas illuminiert, in Denkmälern und Statuen verherrlicht, und doch war es für Emma eher ein Geist als ein Ort, ein launisches Lüftchen, das durch verborgene Gässchen wehte, die Stille der leeren Stadtkirchen belebte und schlafend unter den lautesten Straßen lag. Sie blickte über den Fluss auf den Mond von Big Ben und den beleuchteten Westminster Palace, wo die Fahnenstange leer aufragte und die Beleuchtung der Turmuhr abgeschaltet war. Es war Samstagabend; das Parlament tagte nicht. Hoch am Himmel setzte ein Flugzeug zum Landeanflug an, die Tragflächenlichter wie Sterne, die sich bewegten. Die Passagiere starrten jetzt bestimmt gebannt auf den schwarzen, gewundenen Fluss, dessen Märchenbrücken in buntes Licht getaucht waren.
Sie fragte sich, was Dalgliesh wohl gerade tat. Arbeitete er noch, schlief er oder machte er auf dieser namenlosen Insel einen Spaziergang und betrachtete den Nachthimmel? In London wurden die Sterne vom Leuchten der Stadt überstrahlt, doch auf einer einsamen Insel im Dunkeln musste eine unglaublich funkelnde Sternenpracht zu sehen sein. Plötzlich war die Sehnsucht nach ihm so intensiv und körperlich, dass sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. Sie sehnte sich danach, in die Wohnung in Queenhithe hoch über der Themse zurückzukehren, in sein Bett, seine Arme. Heute Abend würden sie und Clara mit der District Line von der Station Embankment bis Putney Bridge fahren und in Claras Wohnung am Flussufer gehen. Warum also nicht Queenhithe, das bequem zu Fuß zu erreichen war? Sie hatte noch nie daran gedacht, Clara dorthin einzuladen, und ihre Freundin schien das auch nicht zu erwarten. Queenhithe, das war nur sie und Adam. Jemanden dort hineinzulassen hätte bedeutet, jemanden in sein Privatleben zu lassen, in seines und ihres. Aber war sie denn wirklich dort zu Hause?

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ie erinnerte sich an eine Szene ganz am Anfang ihrer Beziehung, als Adam sie morgens gefragt hatte: »Macht es dir was aus, wenn ich vor dir ins Bad gehe?«
Sie hatte lachend geantwortet: »Sei doch nicht so förmlich. Schließlich bin ich hier schon so gut wie zu Hause.«
Er war hinter ihren Sessel getreten, hatte den dunklen Kopf geneigt und die Arme um sie geschlungen. »Ja, das bist du, Liebste, und das ist ein wahres Wunder.«
Sie merkte, dass Clara sie ansah. Ihre Freundin sagte: »Ich weiß, dass du an deinen Commander denkst. Zum Glück ist Dichtkunst kein Ersatz für das Leben. Wie geht noch mal das Zitat von Blake über die Gesichtszüge des erfüllten Verlangens? Das passt hundertprozentig auf dich. Schön, dass du heute Abend mit nach Putney kommst. Annie freut sich schon auf dich.« Sie schwieg kurz, dann sagte sie: »Alles in Ordnung?«
»Eigentlich ja. Wenn wir uns sehen, dann zwar immer kurz, aber wunderbar, vollkommen. Nur kann man nicht ewig in dieser Intensität leben. Clara, ich möchte ihn wirklich heiraten. Ich weiß selbst nicht, warum ich mir da so sicher bin. Wir können gar nicht glücklicher werden, als wir es sind, oder stärker miteinander verbunden. Ich könnte mir auch nicht sicherer sein. Also warum will ich es unbedingt schwarz auf weiß haben? Das ist doch irrational.«
»Na ja, er hat dir einen Heiratsantrag gemacht, noch dazu schriftlich und bevor ihr zum ersten Mal im Bett wart. Das lässt auf ein Selbstbewusstsein in sexuellen Dingen schließen, das schon fast an Arroganz grenzt. Will er dich denn nicht mehr heiraten?«
»Ich weiß es nicht genau. Vielleicht meint er ja, dass uns beiden die wunderbaren, wenn auch kurzen Begegnungen genügen, während wir getrennt wohnen und auch sonst alles getrennt bleibt.«

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lara sagte: »Warum macht ihr Heteros euch das Leben so schwer. Ihr sprecht doch miteinander, oder nicht? Ich meine, ihr kommuniziert doch? Er hat dir einen Antrag gemacht. Sag ihm, es wird langsam Zeit, über einen Termin zu reden.«
»Ich weiß nicht, wie ich das anstellen soll.«
»Da kenne ich alle möglichen Wege. Du könntest beispielsweise sagen: ÝIm Dezember, wenn die Bewerbungsgespräche für das nächste Semester anfangen, hab ich furchtbar viel zu tun. Wenn dir richtige Flitterwochen vorschweben und nicht nur ein Wochenende zu Hause, dann wäre Neujahr am besten.Ü Oder du könntest deinen Commander ganz förmlich deinem Vater vorstellen. Ich geh mal davon aus, dass ihm diese traditionelle Feuerprobe bisher erspart geblieben ist. Und dann bringst du den Prof dazu, ihn nach seinen Absichten zu fragen. Das hat so einen gewissen altmodischen Touch, der ihm vielleicht gefällt.«
»Ich glaube kaum, dass das meinem Vater gefallen würde - das heißt, wenn er überhaupt lange genug von seinen Büchern aufsieht, um mitzubekommen, was Adam sagt. Und hör bitte endlich damit auf, ihn Ýmeinen CommanderÜ zu nennen.«
»Ich erinnere mich, ihn einen Scheißkerl genannt zu haben, als wir am Telefon das erste und einzige Mal miteinander gesprochen haben. Ich glaube, wir werden eine Weile brauchen, bis wir zum Du übergehen. Wenn du ihn schon nicht ahnungslos dem Prof zum Fraß vorwerfen willst, wie wärÕs mit einer kleinen Erpressung? ÝKein gemeinsames Wochenende mehr, ehe der Ring nicht an meinem Finger ist. Ich habe moralische Skrupel bekommen.Ü Im Laufe der Jahrhunderte hat sich die Methode als überaus effektiv bewährt. Wieso soll man nicht darauf zurückgreifen, bloß weil schon andere die gleiche Idee hatten.«

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mma lachte. »Ich glaube nicht, dass ich das durchhalten würde. Ich bin keine Masochistin. Wahrscheinlich würde ich nach zwei Wochen klein beigeben.«
»Na gut, dann lass dir selbst was einfallen, aber hör auf, dich zu quälen. Du hast doch nicht etwa Angst vor Ablehnung?«
»Nein, das nicht. Aber es könnte doch sein, dass er im Grunde seines Herzens gar nicht heiraten will, nur ich eben.«
Sie überquerten jetzt die Brücke. Nach kurzem Schweigen fragte Clara: »Wenn er krank würde, schwitzen, schrecklich riechen, sich erbrechen, ein einziges Bild des Jammers wäre - könntest du ihn waschen, ihn pflegen?«
»Natürlich.«
»Und im umgekehrten Fall? Was wäre dann?«
Emma antwortete nicht.

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lara sagte: »Ich habe die passende Diagnose für dein Problem. Du hast Angst, dass er dich nur liebt, weil du schön bist. Du kannst den Gedanken nicht ertragen, dass er dich sehen würde, wenn du mal weniger schön bist.«
»Aber das ist doch auch wichtig, zumindest am Anfang. War das bei Annie und dir nicht so? So fängt Liebe schließlich an, mit körperlicher Anziehung, oder?«
»Natürlich. Wenn ihr allerdings nur das habt, dann wirdÕs schwierig.«
»Wir haben mehr als das. Da bin ich sicher.«
Doch in einem Winkel ihres Gehirns wusste sie, dass der beängstigende Gedanke sich festgesetzt hatte. Sie sagte: »Das hat nichts mit seiner Arbeit zu tun. Ich weiß, dass wir uns oft nicht sehen können, obwohl wir es gerne würden. Ich weiß, dass er dieses Wochenende wegmusste. Nur hab ich diesmal irgendwie ein komisches Gefühl. Ich habe Angst, dass er nicht zurückkommt, dass er auf dieser Insel stirbt.«
»Sei nicht albern. Wieso sollte er? Er ist da doch nicht auf Terroristenjagd. Ich dachte, seine Spezialität wäre Mord in gehobenen Kreisen, Fälle, die für den einfachen Normalpolizisten zu prekär sind. Wahrscheinlich ist er in keiner größeren Gefahr als wir, wenn wir gleich die U-Bahn nach Putney nehmen.«
»Ich weiß, dass es irrational ist, aber ich werde das Gefühl nicht los.«
»Dann lass uns nach Hause fahren.«
Emma dachte: Sie kann das Wort einfach so sagen. Wieso kann ich das nicht, wenn ich mit Adam zusammen bin?

6
Rupert Maycroft hatte Dalgliesh und seinem Team erzählt, dass Dan Padgett nach dem Tod seiner Mutter vom Stallgebäude in das kleine Puffin Cottage gezogen war, das zwischen Dolphin und Atlantic Cottage an der Nordwestküste lag. Kate hatte ihn früh am Montagmorgen angerufen und vereinbart, dass sie mittags zu ihm kommen würden. Auf ihr Klopfen hin öffnete er sofort und trat wortlos zur Seite.
Als Erstes drängte sich Benton die Frage auf, wie Padgett wohl seine Zeit verbrachte, wenn er zu Hause war.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 27.09.2006