26.09.2006
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Mrs. Burbridge schwieg einen Moment. Dann sah sie ihm direkt in die Augen und sagte mit einiger Leidenschaft: »Niemand auf dieser Insel wird behaupten, dass er Nathan Oliver gemocht hat, niemand. Im Grunde waren es überwiegend Bagatellen, mit denen er die Leute hier verärgert hat - schlechte Laune, Undankbarkeit, Beschwerden über Dan Padgetts Schlampigkeit, dass das Essen zu spät geliefert wurde, dass das Boot nicht immer zur Verfügung stand, wenn er eine Fahrt um die Insel machen wollte, so was eben. Und einmal hat er etwas richtig Niederträchtiges getan. Das Wort würde wohl kaum jemand hier benutzen, Commander, aber ich verwende es bewusst.«
Dalgliesh sagte: »Ich glaube, ich weiß, was Sie meinen, Mrs. Burbridge. Mrs. Staveley hat mir davon erzählt.«
»Es ist leicht, Jo Staveley zu kritisieren. Ich würde das nie tun. Adrian hätte sterben können, wenn sie nicht gewesen wäre. Jetzt versucht er, das alles hinter sich zu lassen, und natürlich erwähnen wir es nie. Ich bin sicher, auch Sie werden das nicht. Die Sache hat nichts mit Olivers Tod zu tun, aber was er getan hat, wird keiner vergessen. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden, ich habe noch allerhand zu erledigen. Es tut mir Leid, ich war bestimmt keine große Hilfe.«
Dalgliesh sagte: »Sie waren eine sehr große Hilfe, Mrs. Burbridge. Vielen Dank.«
Auf dem Rückweg durch die Bibliothek sagte Kate: »Sie glaubt, Jo Staveley warÕs. Das, was mit Adrian Boyde passiert ist, hat Mrs. Staveley natürlich sehr wütend gemacht, doch sie ist Krankenschwester. Warum hätte sie ihn auf diese Weise töten sollen? Eine tödliche Spritze beim Blutabnehmen wäre allerdings lächerlich. Sie wäre sofort verdächtigt worden.«
Dalgliesh sagte: »Und das dürfte auch all ihren Instinkten widersprochen haben. Vergessen wir nicht, dass der Mord aus dem Affekt geschah und nicht vorsätzlich. Aber sie wäre ganz sicher stark genug, um Olivers Körper über das Geländer zu heben, und sie hätte vom Dolphin Cottage aus gut über die untere Klippe zum Leuchtturm gelangen können. Irgendwie sehe ich Jo Staveley nicht als Mörderin. Andererseits hatten wir es, glaube ich, auch noch nie mit einem unwahrscheinlicheren Kreis von Verdächtigen zu tun.«
4
Millies heftige Erschütterung wegen Olivers Tod hatte sich inzwischen gelegt, und jetzt, nachdem sie von Dalgliesh vernommen worden war, nahm sie das Ganze widerwillig hin. Mrs. Burbridge wusste jedoch, dass sie ihr ein paar Dinge sagen musste. Und als sie jetzt Millie gegenübersaß, wappnete sie sich innerlich, ehe sie sie zur Sprache brachte.
»Millie, du hast Commander Dalgliesh doch die Wahrheit gesagt über das, was mit dem Brief von Dr. Speidel passiert ist, oder nicht? Ich will damit nicht sagen, dass du unehrlich warst, nur vergessen wir manchmal wichtige Einzelheiten, und dann wieder erzählen wir nicht alles, weil wir jemanden schützen möchten.«
»Klar hab ich die Wahrheit gesagt. Wer sagt, dass ich lüge?«
»Niemand sagt das, Millie. Ich wollte bloß sicher sein.«
»Na, jetzt sind Sie ja sicher. Wieso meckern bloß immer alle an mir rum - Sie oder Mr. Maycroft oder die Polizei oder sonst wer?«
»Ich meckere doch nicht an dir rum. Wenn du mir versicherst, dass du wirklich die volle Wahrheit gesagt hast, dann bin ich zufrieden.«
»Ja, hab ich, zufrieden?«
Mrs. Burbridge zwang sich weiter dazu, fortzufahren. »Ich mache mir nur eben meine Gedanken um dich, Millie. Wir haben dich gerne hier bei uns, aber es ist nicht die richtige Umgebung für einen jungen Menschen wie dich. Du hast dein ganzes Leben noch vor dir. Du musst mit anderen jungen Leuten zusammenkommen, du brauchst eine richtige Arbeit.«
»Ich krieg schon eine richtige Arbeit, wenn ich will. Außerdem, ich hab eine richtige Arbeit, ich arbeite für Sie und Mrs. Plunkett.«
»Und wir sind froh, dass wir dich haben. Doch du hast hier keine großen Aussichten, oder, Millie? Manchmal frage ich mich, ob du hier bleibst, weil du Jago so magst.«
»Er ist in Ordnung. Er ist mein Freund.«
»Natürlich ist er das, aber mehr kann er auch nicht sein. Ich meine, er hat jemanden in Pentworthy, den er besucht, nicht wahr? Der Freund, der dabei war, als du ihm das erste Mal begegnet bist.«
»Ja, Jake. Der ist Physiotherapeut im Krankenhaus. Der ist cool.«
»Dann besteht nicht viel Hoffnung, dass Jago sich in dich verliebt, hab ich Recht?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht doch. Kann ja sein, dass er zweigleisig fährt.«
M
»Ich hab doch Freunde hier. Sie sind meine Freundin. Ich habe Sie, und Sie haben mich.«
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Artikel vom 26.09.2006