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So ganz abwegig war der Gedanke nicht. Dalgliesh konnte sich die Mischung aus Grauen und Euphorie vorstellen, mit der Oliver auf dem schmalen, steinernen Streifen gestanden haben könnte mit nur einer Hand am Geländer, die ihn am Absturz hinderte. Aber er hatte sich diese Abdrücke an seinem Hals nicht selbst zugefügt. Er war tot gewesen, ehe er in diese Unendlichkeit geworfen wurde.
Mrs. Burbridge schwieg einen Moment. Dann sah sie ihm direkt in die Augen und sagte mit einiger Leidenschaft: »Niemand auf dieser Insel wird behaupten, dass er Nathan Oliver gemocht hat, niemand. Im Grunde waren es überwiegend Bagatellen, mit denen er die Leute hier verärgert hat - schlechte Laune, Undankbarkeit, Beschwerden über Dan Padgetts Schlampigkeit, dass das Essen zu spät geliefert wurde, dass das Boot nicht immer zur Verfügung stand, wenn er eine Fahrt um die Insel machen wollte, so was eben. Und einmal hat er etwas richtig Niederträchtiges getan. Das Wort würde wohl kaum jemand hier benutzen, Commander, aber ich verwende es bewusst.«
Dalgliesh sagte: »Ich glaube, ich weiß, was Sie meinen, Mrs. Burbridge. Mrs. Staveley hat mir davon erzählt.«
»Es ist leicht, Jo Staveley zu kritisieren. Ich würde das nie tun. Adrian hätte sterben können, wenn sie nicht gewesen wäre. Jetzt versucht er, das alles hinter sich zu lassen, und natürlich erwähnen wir es nie. Ich bin sicher, auch Sie werden das nicht. Die Sache hat nichts mit Olivers Tod zu tun, aber was er getan hat, wird keiner vergessen. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden, ich habe noch allerhand zu erledigen. Es tut mir Leid, ich war bestimmt keine große Hilfe.«
Dalgliesh sagte: »Sie waren eine sehr große Hilfe, Mrs. Burbridge. Vielen Dank.«
Auf dem Rückweg durch die Bibliothek sagte Kate: »Sie glaubt, Jo Staveley warÕs. Das, was mit Adrian Boyde passiert ist, hat Mrs. Staveley natürlich sehr wütend gemacht, doch sie ist Krankenschwester. Warum hätte sie ihn auf diese Weise töten sollen? Eine tödliche Spritze beim Blutabnehmen wäre allerdings lächerlich. Sie wäre sofort verdächtigt worden.«
Dalgliesh sagte: »Und das dürfte auch all ihren Instinkten widersprochen haben. Vergessen wir nicht, dass der Mord aus dem Affekt geschah und nicht vorsätzlich. Aber sie wäre ganz sicher stark genug, um Olivers Körper über das Geländer zu heben, und sie hätte vom Dolphin Cottage aus gut über die untere Klippe zum Leuchtturm gelangen können. Irgendwie sehe ich Jo Staveley nicht als Mörderin. Andererseits hatten wir es, glaube ich, auch noch nie mit einem unwahrscheinlicheren Kreis von Verdächtigen zu tun.«

4
Wie Mrs. Burbridge erwartet hatte, kam Millie am Nachmittag wieder, aber nicht, um an der Stola zu arbeiten. Stattdessen brachten sie eine Stunde damit zu, die farbigen Seidenrollen in den Fächern in eine logischere Ordnung zu bringen und anschließend den Chorrock behutsam in Seidenpapier einzuschlagen und in einen langen Pappkarton zu legen. Die meiste Zeit arbeiteten sie schweigend. Dann zogen sie die weißen Kittel aus und gingen gemeinsam in die blitzsaubere Küche, wo Mrs. Burbridge einen Kessel Wasser aufsetzte und Tee kochte. Sie tranken ihn am Küchentisch.
Millies heftige Erschütterung wegen Olivers Tod hatte sich inzwischen gelegt, und jetzt, nachdem sie von Dalgliesh vernommen worden war, nahm sie das Ganze widerwillig hin. Mrs. Burbridge wusste jedoch, dass sie ihr ein paar Dinge sagen musste. Und als sie jetzt Millie gegenübersaß, wappnete sie sich innerlich, ehe sie sie zur Sprache brachte.
»Millie, du hast Commander Dalgliesh doch die Wahrheit gesagt über das, was mit dem Brief von Dr. Speidel passiert ist, oder nicht? Ich will damit nicht sagen, dass du unehrlich warst, nur vergessen wir manchmal wichtige Einzelheiten, und dann wieder erzählen wir nicht alles, weil wir jemanden schützen möchten.«
»Klar hab ich die Wahrheit gesagt. Wer sagt, dass ich lüge?«
»Niemand sagt das, Millie. Ich wollte bloß sicher sein.«
»Na, jetzt sind Sie ja sicher. Wieso meckern bloß immer alle an mir rum - Sie oder Mr. Maycroft oder die Polizei oder sonst wer?«
»Ich meckere doch nicht an dir rum. Wenn du mir versicherst, dass du wirklich die volle Wahrheit gesagt hast, dann bin ich zufrieden.«
»Ja, hab ich, zufrieden?«
Mrs. Burbridge zwang sich weiter dazu, fortzufahren. »Ich mache mir nur eben meine Gedanken um dich, Millie. Wir haben dich gerne hier bei uns, aber es ist nicht die richtige Umgebung für einen jungen Menschen wie dich. Du hast dein ganzes Leben noch vor dir. Du musst mit anderen jungen Leuten zusammenkommen, du brauchst eine richtige Arbeit.«
»Ich krieg schon eine richtige Arbeit, wenn ich will. Außerdem, ich hab eine richtige Arbeit, ich arbeite für Sie und Mrs. Plunkett.«
»Und wir sind froh, dass wir dich haben. Doch du hast hier keine großen Aussichten, oder, Millie? Manchmal frage ich mich, ob du hier bleibst, weil du Jago so magst.«
»Er ist in Ordnung. Er ist mein Freund.«
»Natürlich ist er das, aber mehr kann er auch nicht sein. Ich meine, er hat jemanden in Pentworthy, den er besucht, nicht wahr? Der Freund, der dabei war, als du ihm das erste Mal begegnet bist.«
»Ja, Jake. Der ist Physiotherapeut im Krankenhaus. Der ist cool.«
»Dann besteht nicht viel Hoffnung, dass Jago sich in dich verliebt, hab ich Recht?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht doch. Kann ja sein, dass er zweigleisig fährt.«

M
rs. Burbridge hatte schon die Frage auf der Zunge: Und du hoffst, er könnte auf dein Gleis umsteigen?, doch sie verkniff sie sich gerade noch. Sie bereute schon, sich auf dieses gefährliche Gespräch überhaupt eingelassen zu haben. Sie sagte schwach: »Ich finde nur, du solltest auch andere Leute kennen lernen, Millie, mehr erleben, als das hier möglich ist. Such dir Freunde.«
»Ich hab doch Freunde hier. Sie sind meine Freundin. Ich habe Sie, und Sie haben mich.«

D
ie Worte lösten eine so jähe und schmerzliche Freude in ihr aus, dass sie einige Sekunden lang kein Wort herausbrachte. Sie zwang sich, Millie anzusehen. Das Mädchen hatte die Hände fest um ihre Teetasse gelegt und schaute nach unten. Und dann bemerkte Mrs. Burbridge, wie sich der kindliche Mund zu einem Lächeln verzog, das durch und durch erwachsen war in seiner Mischung aus Amüsiertheit und - ja - Herablassung. Es waren bloß Worte wie die meisten von Millies Worten: achtlos dahingesagt, unverbindlich. Mrs. Burbridge schlug die Augen nieder, schloss die Hände fester um die Tasse und führte sie behutsam an die Lippen.

5
Clara Beckwith war Emma Lavenhams engste Freundin. Sie hatten sich im ersten Semester in Cambridge kennen gelernt, und sie war Emmas einzige Vertraute. Sie hätten unterschiedlicher nicht sein können: die eine heterosexuell und mit ihrer dunklen Schönheit belastet, die andere untersetzt, kurz geschnittenes Haar über einem rundlichen, bebrillten Gesicht und ausgestattet mit der - in Emmas Augen - tapferen Unverwüstlichkeit eines Grubenponys. Sie wusste nicht recht, was Clara an ihr fand, und argwöhnte halb, wie sie das immer tat, dass es überwiegend körperliche Anziehung war. Sie jedenfalls mochte an ihrer Freundin die Ehrlichkeit, den gesunden Menschverstand und eine klaglose Bejahung der Wechselfälle des Lebens, der Liebe und der Lust. Sie wusste, dass Clara sich sexuell sowohl zu Männern als auch zu Frauen hingezogen fühlte, aber seit fünf Jahren ihre Ruhe und Zufriedenheit bei der sanftmütigen Annie gefunden hatte, die ebenso zart und verletzlich war wie Clara stark. Claras ambivalente Haltung, was Emmas Beziehung zu Dalgliesh anging, hätte zu Komplikationen führen können, wenn Emma den Verdacht gehabt hätte, dass sie auf Eifersucht beruhte und nicht auf dem instinktiven Argwohn, den ihre Freundin männlichen Motiven entgegenbrachte. Die zwei waren sich noch nie begegnet. Keiner von beiden hatte je ein Treffen vorgeschlagen.

C
lara hatte ihr Mathematikexamen in Cambridge mit Auszeichnung abgelegt und arbeitete als erfolgreiche Fondsmanagerin in der City, aber sie wohnte noch immer mit ihrer Lebensgefährtin in der Wohnung in Putney, die sie gleich nach ihrem Studium gekauft hatte, gab wenig Geld für Kleidung aus, und als einzige teure Extravaganzen leistete sie sich den Porsche und die gemeinsamen Reisen. Emma vermutete, dass ein nicht unerheblicher Teil von Claras Einkommen an wohltätige Zwecke ging und dass sie gemeinsam mit ihrer Geliebten für irgendein zukünftiges, nicht näher definiertes Unternehmen sparte. Der Job in der City sollte nur vorübergehend sein. Clara wollte sich auf gar keinen Fall von der verführerischen Welt des trügerischen und fragwürdigen Reichtums abhängig machen.

S
ie hatten zusammen ein Konzert in der Royal Festival Hall besucht. Es war recht früh zu Ende gewesen, und um Viertel nach acht hatten sie die Schlange vor der Garderobe hinter sich gebracht und ließen sich mit dem Strom von Menschen treiben, die an der Themse entlang Richtung Hungerford Bridge strebten. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 26.09.2006