25.09.2006
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An dem der Tür nächstgelegenen Tisch saß Millie und arbeitete an einer cremefarbenen Stola. Dalgliesh und Kate bot sich ein ganz anderes Bild der jungen Frau als das, welches sie am Vortag bei der Befragung gewonnen hatten. Sie trug einen blütenweißen Kittel, ihr Haar war mit einem weißen Band zurückgebunden, und sie stach mit sehr sauberen Händen ganz akkurat eine feine Nadel in den Rand eines aufgenähten Seidenmusters. Sie warf Dalgliesh und Kate nur einen flüchtigen Blick zu, ehe sie sich wieder ihrer Aufgabe widmete. Die ernste Konzentration veränderte das scharf geschnittene kindliche Gesicht so stark, dass sie hübsch und sehr jung schien.
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Millie reagierte patzig. »Vielleicht ja, vielleicht nein. Ich hab auch noch was anderes zu tun.«
Die Stola hatte auf einem kleinen, weißen Baumwolltuch gelegen. Millie stach die Nadel in eine Ecke und breitete das Tuch über ihre Arbeit, dann entledigte sie sich des Kittels und des Haarbandes und hängte beides in einen Schrank neben der Tür. Dann ließ sie noch eine bissige Bemerkung vom Stapel. »Ich finde, die Bullen sollten uns nicht bei der Arbeit stören.«
Mrs. Burbridge sagte leise: »Ich habe sie zu mir gebeten, Millie.«
»Mich hat keiner gefragt. Dabei arbeite ich ja schließlich auch hier. Das Theater gestern hat mir gereicht.« Und weg war sie.
Mrs. Burbridge lächelte. »Heute Nachmittag ist sie wieder da. Sie näht sehr gern, und in ihrer kurzen Zeit hier ist aus ihr eine wirklich geschickte Stickerin geworden. Ihre Großmutter hatte ihr schon ein wenig beigebracht, und ich meine, früh übt sich nun mal, was ein Meister werden will. Ich versuche, sie zu einer richtigen Ausbildung zu überreden, aber das ist schwierig. Außerdem wäre da die Frage, wo sie leben soll, wenn sie die Insel verlässt.«
Dalgliesh und Kat setzten sich an den langen Tisch, während Mrs. Burbridge im Zimmer umherlief, ein durchsichtiges Muster aufrollte, offensichtlich ein Entwurf für eine Altardecke, die Seidenrollen nach Farbe sortiert in die entsprechenden Schubfächer tat und die Ballen zurück in die Kiste legte.
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»Ja, und das ist fast noch spannender. Seit dem letzten Krieg hat sich die Paramentenstickerei sehr verändert. Wahrscheinlich wissen Sie noch, dass Altardecken früher praktisch nur zwei Bortenstreifen hatten, die die Säume mit einem herkömmlichen Standardmotiv bedeckten, nichts Originelles oder Neues. Erst in den Fünfzigerjahren kam es auf, fantasievoller zu gestalten und auch die künstlerische Formgebung der Zeit zu berücksichtigen. Ich war damals gerade kurz vor Ende meiner Ausbildung, und diese neue Entwicklung hat mich ausgesprochen begeistert. Trotzdem bin ich nur eine Amateurin. Ich sticke ausschließlich mit Seide. Es gibt Leute, die machen weitaus kreativere und kompliziertere Sachen. Ich habe damit angefangen, als sich die Altardecke in der Kirche meines Mannes allmählich an den Säumen auflöste, und der Kirchenvorstand den Vorschlag machte, ich könnte doch eine neue machen. Ich arbeite hauptsächlich für Freunde und Bekannte, die mir natürlich das Material bezahlen und etwas zu dem Geld dazutun, das ich Millie gebe. Der Chorrock ist ein Abschiedsgeschenk für einen Bischof. Grün ist natürlich die liturgische Farbe für Epiphanias und Trinitatis, doch ich habe mir gedacht, dass er sich über Frühlingsblumen freuen würde.«
Kate warf ein: »Bestimmt sind die Gewänder und Decken sehr schwer und kostbar, wenn Sie Ihre Arbeit abgeschlossen haben. Wie liefern Sie die Sachen an die Empfänger?«
Das hat Adrian Boyde immer gemacht. Es war für ihn eine willkommene Gelegenheit, einmal wieder von der Insel runterzukommen. Ich hoffe, dass er in einer Woche auch diesen Chorrock ausliefern wird. Ich denke, das können wir riskieren.« Den letzten Satz sprach sie sehr leise. Dalgliesh wartete. Plötzlich sagte sie: »So, ich bin hier fertig. Vielleicht gehen wir jetzt lieber ins Wohnzimmer.«
Sie führte sie in einen kleineren Raum, der fast ebenso überfüllt war wie die Diele, dabei erstaunlich freundlich und gemütlich wirkte. Dalgliesh und Kate ließen sich vor dem Kamin in zwei niedrigen viktorianischen Sesseln mit Samtbezug nieder. Mrs. Burbridge zog einen Hocker heran und setzte sich ihnen gegenüber. Wie erwartet, bot sie ihnen Kaffee an, den sie dankend ablehnten. Dalgliesh hatte es nicht eilig, auf Olivers Tod zu sprechen zu kommen. Er war sicher, dass Mrs. Burbridge einiges Interessantes zu erzählen hatte. Sie war eine diskrete Frau, doch konnte sie ihm wahrscheinlich mehr über die Insel und ihre Bewohner erzählen, als der erst vor achtzehn Monaten hier eingetroffene Rupert Maycroft.
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»Sind Sie sich da ganz sicher?«
»O ja, Mr. Dalgliesh. So hat er gearbeitet, so hat er gelebt. Er hat andere Menschen beobachtet und sie sich zunutze gemacht. Wenn er sehen wollte, wie jemand in seine ureigene Hölle stürzt, dann hat er es irgendwie arrangiert, hautnah dabei zu sein. Es steht alles in seinen Romanen. Und wenn er für seine Experimente niemanden finden konnte, dann hat er sie an sich selbst durchgeführt. Ich glaube, so ist er gestorben. Er wollte wahrscheinlich über jemanden schreiben, der erhängt wird oder vielleicht einen solchen Selbstmord plant, und sich die Tat möglichst realistisch vorstellen können. Möglicherweise ist er dabei sogar so weit gegangen, sich das Seil um den Hals zu legen und über das Geländer zu steigen. Da sind außen noch etwa zwanzig Zentimeter Platz, und er hätte sich ja auch am Geländer festhalten können. Ich weiß, das klingt töricht, aber ich habe gründlich darüber nachgedacht, wie wir alle, und ich glaube, das ist die Erklärung. Es war ein Experiment.«
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Artikel vom 25.09.2006