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Es gab rund zwei Dutzend Entwürfe für Kreuze, Symbole der vier Evangelisten und unterschiedliche Heilige sowie Zeichnungen von auf- und absteigenden Tauben. Am hinteren Ende des Raumes hing über einer Schneiderpuppe ein Chorrock aus sattgrüner Seide, der mit zartem Laubwerk und Frühlingsblumen bestickt war.
An dem der Tür nächstgelegenen Tisch saß Millie und arbeitete an einer cremefarbenen Stola. Dalgliesh und Kate bot sich ein ganz anderes Bild der jungen Frau als das, welches sie am Vortag bei der Befragung gewonnen hatten. Sie trug einen blütenweißen Kittel, ihr Haar war mit einem weißen Band zurückgebunden, und sie stach mit sehr sauberen Händen ganz akkurat eine feine Nadel in den Rand eines aufgenähten Seidenmusters. Sie warf Dalgliesh und Kate nur einen flüchtigen Blick zu, ehe sie sich wieder ihrer Aufgabe widmete. Die ernste Konzentration veränderte das scharf geschnittene kindliche Gesicht so stark, dass sie hübsch und sehr jung schien.

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rs. Burbridge trat zu ihr und betrachtete die Stiche, die für Dalglieshs Auge nahezu unsichtbar waren. Ihre Stimme war ein leises anerkennendes Raunen. »Ja, ja, Millie. Sehr schön. Gut gemacht. Du kannst jetzt gehen. Komm heute Nachmittag wieder, wenn du möchtest.«
Millie reagierte patzig. »Vielleicht ja, vielleicht nein. Ich hab auch noch was anderes zu tun.«
Die Stola hatte auf einem kleinen, weißen Baumwolltuch gelegen. Millie stach die Nadel in eine Ecke und breitete das Tuch über ihre Arbeit, dann entledigte sie sich des Kittels und des Haarbandes und hängte beides in einen Schrank neben der Tür. Dann ließ sie noch eine bissige Bemerkung vom Stapel. »Ich finde, die Bullen sollten uns nicht bei der Arbeit stören.«
Mrs. Burbridge sagte leise: »Ich habe sie zu mir gebeten, Millie.«
»Mich hat keiner gefragt. Dabei arbeite ich ja schließlich auch hier. Das Theater gestern hat mir gereicht.« Und weg war sie.
Mrs. Burbridge lächelte. »Heute Nachmittag ist sie wieder da. Sie näht sehr gern, und in ihrer kurzen Zeit hier ist aus ihr eine wirklich geschickte Stickerin geworden. Ihre Großmutter hatte ihr schon ein wenig beigebracht, und ich meine, früh übt sich nun mal, was ein Meister werden will. Ich versuche, sie zu einer richtigen Ausbildung zu überreden, aber das ist schwierig. Außerdem wäre da die Frage, wo sie leben soll, wenn sie die Insel verlässt.«
Dalgliesh und Kat setzten sich an den langen Tisch, während Mrs. Burbridge im Zimmer umherlief, ein durchsichtiges Muster aufrollte, offensichtlich ein Entwurf für eine Altardecke, die Seidenrollen nach Farbe sortiert in die entsprechenden Schubfächer tat und die Ballen zurück in die Kiste legte.

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ährend Dalgliesh ihr zusah, fragte er: »Der Chorrock ist wunderschön. Machen Sie außer der eigentlichen Stickerei auch die Entwürfe?«
»Ja, und das ist fast noch spannender. Seit dem letzten Krieg hat sich die Paramentenstickerei sehr verändert. Wahrscheinlich wissen Sie noch, dass Altardecken früher praktisch nur zwei Bortenstreifen hatten, die die Säume mit einem herkömmlichen Standardmotiv bedeckten, nichts Originelles oder Neues. Erst in den Fünfzigerjahren kam es auf, fantasievoller zu gestalten und auch die künstlerische Formgebung der Zeit zu berücksichtigen. Ich war damals gerade kurz vor Ende meiner Ausbildung, und diese neue Entwicklung hat mich ausgesprochen begeistert. Trotzdem bin ich nur eine Amateurin. Ich sticke ausschließlich mit Seide. Es gibt Leute, die machen weitaus kreativere und kompliziertere Sachen. Ich habe damit angefangen, als sich die Altardecke in der Kirche meines Mannes allmählich an den Säumen auflöste, und der Kirchenvorstand den Vorschlag machte, ich könnte doch eine neue machen. Ich arbeite hauptsächlich für Freunde und Bekannte, die mir natürlich das Material bezahlen und etwas zu dem Geld dazutun, das ich Millie gebe. Der Chorrock ist ein Abschiedsgeschenk für einen Bischof. Grün ist natürlich die liturgische Farbe für Epiphanias und Trinitatis, doch ich habe mir gedacht, dass er sich über Frühlingsblumen freuen würde.«
Kate warf ein: »Bestimmt sind die Gewänder und Decken sehr schwer und kostbar, wenn Sie Ihre Arbeit abgeschlossen haben. Wie liefern Sie die Sachen an die Empfänger?«
Das hat Adrian Boyde immer gemacht. Es war für ihn eine willkommene Gelegenheit, einmal wieder von der Insel runterzukommen. Ich hoffe, dass er in einer Woche auch diesen Chorrock ausliefern wird. Ich denke, das können wir riskieren.« Den letzten Satz sprach sie sehr leise. Dalgliesh wartete. Plötzlich sagte sie: »So, ich bin hier fertig. Vielleicht gehen wir jetzt lieber ins Wohnzimmer.«
Sie führte sie in einen kleineren Raum, der fast ebenso überfüllt war wie die Diele, dabei erstaunlich freundlich und gemütlich wirkte. Dalgliesh und Kate ließen sich vor dem Kamin in zwei niedrigen viktorianischen Sesseln mit Samtbezug nieder. Mrs. Burbridge zog einen Hocker heran und setzte sich ihnen gegenüber. Wie erwartet, bot sie ihnen Kaffee an, den sie dankend ablehnten. Dalgliesh hatte es nicht eilig, auf Olivers Tod zu sprechen zu kommen. Er war sicher, dass Mrs. Burbridge einiges Interessantes zu erzählen hatte. Sie war eine diskrete Frau, doch konnte sie ihm wahrscheinlich mehr über die Insel und ihre Bewohner erzählen, als der erst vor achtzehn Monaten hier eingetroffene Rupert Maycroft.

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ie erzählte: »Millie wurde Ende Mai von Jago mit auf die Insel gebracht. Er hatte sich einen Tag Urlaub genommen und einen Freund in Pentworthy besucht. Als sie aus dem Pub kamen, sahen sie Millie an der Uferpromenade betteln. Sie schien hungrig zu sein, und Jago sprach sie an. Er hat schon immer ein Herz für junge Leute gehabt. Jedenfalls sind er und sein Freund mit Millie zu einer Fish-and-Chips-Bude gegangen - sie muss regelrecht ausgehungert gewesen sein -, und sie hat ihnen ihre Geschichte erzählt. Es ist leider die altbekannte. Ihr Vater hat die Familie verlassen, als sie noch sehr klein war, und sie verstand sich nicht mit ihrer Mutter und deren zahlreichen Liebhabern. Sie verließ Peckham und hat bei ihrer Großmutter mütterlicherseits in einem Dorf in der Nähe von Plymouth gelebt. Das ging ganz gut, doch nach zwei Jahren erkrankte die alte Dame an Alzheimer und wurde in einem Heim untergebracht, und von da an war Millie obdachlos. Ich glaube, sie hat dem Sozialamt erzählt, dass sie nach Peckham zurückkehren würde, aber das hat nie jemand überprüft. Sie war schließlich nicht mehr minderjährig, und vermutlich hatten die Leute zu viel zu tun. In dem Haus konnte sie jedoch nicht bleiben. Der Vermieter hatte sie und ihre Großmutter schon länger raushaben wollen, und sie konnte die Miete nicht aufbringen. Eine Zeit lang hat sie sich irgendwie durchgeschlagen, bis das Geld alle war, und dann ist sie Jago begegnet. Er hat Mr. Maycroft aus Pentworthy angerufen und gefragt, ob er Millie für eine gewisse Zeit mitbringen dürfte. Eines der Zimmer im Stallgebäude war frei, und Mrs. Plunkett brauchte Hilfe in der Küche. Mr. Maycroft hat da kaum nein sagen können. Mal abgesehen davon, dass es menschlich richtig war, ist Jago für Combe unersetzlich, und dass er ein sexuelles Interesse an dem Mädchen gehabt hätte, war ausgeschlossen.«

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lötzlich unterbrach sie ihren Redefluss. »Doch Sie sind nicht hier, um über Millie zu sprechen. Natürlich möchten Sie mich erneut wegen Mr. Olivers Tod befragen. Es tut mir Leid, wenn ich gestern kurz angebunden war, aber dass er Millie auf diese Weise ausgenutzt hat, war absolut typisch für ihn. Und dass er sie ausgenutzt hat, steht für mich fest.«
»Sind Sie sich da ganz sicher?«
»O ja, Mr. Dalgliesh. So hat er gearbeitet, so hat er gelebt. Er hat andere Menschen beobachtet und sie sich zunutze gemacht. Wenn er sehen wollte, wie jemand in seine ureigene Hölle stürzt, dann hat er es irgendwie arrangiert, hautnah dabei zu sein. Es steht alles in seinen Romanen. Und wenn er für seine Experimente niemanden finden konnte, dann hat er sie an sich selbst durchgeführt. Ich glaube, so ist er gestorben. Er wollte wahrscheinlich über jemanden schreiben, der erhängt wird oder vielleicht einen solchen Selbstmord plant, und sich die Tat möglichst realistisch vorstellen können. Möglicherweise ist er dabei sogar so weit gegangen, sich das Seil um den Hals zu legen und über das Geländer zu steigen. Da sind außen noch etwa zwanzig Zentimeter Platz, und er hätte sich ja auch am Geländer festhalten können. Ich weiß, das klingt töricht, aber ich habe gründlich darüber nachgedacht, wie wir alle, und ich glaube, das ist die Erklärung. Es war ein Experiment.«

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algliesh hätte darauf hinweisen können, dass es in der Tat ein außerordentlich törichtes Experiment gewesen wäre, doch er kam nicht dazu. Sie fuhr bereits mit einem gewissen Eifer in den Augen fort, als wollte sie ihn unbedingt überzeugen. »Er wird sich am Geländer festgeklammert haben. Vielleicht war es ein impulsiver Impuls rüberzuklettern, aus dem Bedürfnis heraus, den Tod hautnah zu spüren, in dem Glauben, weiterhin alles unter Kontrolle zu haben. Das ist doch das Lustvolle an all den richtig gefährlichen Spielen, die die Menschen spielen, oder?«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 25.09.2006