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Leserzuschrift in der
»Süddeutschen Zeitung«

»Nicht Deutschland ist ein Sanierungsfall, sondern die Politik, die es auf die jetzige Weise steuert.«

Leitartikel
Die Politik arrangiert sich

Wer nun
ist der
Pflegefall?


Von Rolf Dressler
Viele forsche Behauptungen bleiben grundfalsch, auch wenn sie noch so oft wiederholt werden.
Wie zum Beispiel jene unverwüstliche, die da lautet, der allfällige Über-Vater Staat sei ein von Natur aus unstillbar raffgieriges Wesen und mithin des Bürgers erklärter Feind und Taschenleerer.
Man schaue doch nur einmal zurück auf das selbstgesetzte eherne Leitprinzip des legendären »Alten Fritz«, wonach der Obrigkeit lediglich das an Abgaben zustehe, was für Aufgaben und Fortbestand Preußens objektiv und unabweisbar vonnöten sei.
Preußen ist Geschichte. Heute überbieten demokratisch gewählte Volksvertreter einander darin, den »modernen« Moloch Staat nach Strich und Faden zu füttern, ja, zu mästen. Gerade so, als gäbe es dafür üppige Geld- und Ehrenpreise zu gewinnen.
Und: Vorzugsweise vor Bundestags- und Landtagswahlen erwecken Mandatsträger wie Amtsbewerber volltönend den Anschein, die Politik könne im Grunde jedes Problem aus der Welt schaffen - bis hin zu dem wahrlich (über-)lebensentscheidenden Verbot von »Hamburger«-Riesen.
Unaufhörlich angetrieben fühlen sich die Verantwortungsträger offenbar von der durchaus nicht unzutreffenden Erfahrung, dass es den vielzitierten, rundum mündigen Bürger voller Umsicht, Einsichtsfähigkeit und Selbstbescheidung zwar gibt, dass er in seiner klinisch reinen Ausprägung in der Natur aber eigentlich gar nicht vorkommt und im richtigen Alltagsdasein folglich auch nur in Einzelausfertigung anzutreffen ist.
Zur Pflichtübung erstarrt ist das stirnzerfurchte Wehklagen darüber, dass hierzulande fortwährend weniger Menschen von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen. Doch Verwunderung, Besorgnisse und Bestürzung wirken gekün- stelt, sind zumeist wohl nur gespielt. Die »politische Klasse« hat sich damit arrangiert - und eingerichtet über jenem Graben, der immer größer wird zwischen Regierten und Regierenden.
Wahlverweigerung hat Gründe. Sie grassiert übrigens nicht nur bei Hartz-IV-Empfängern und ungezählten sonstigen Bedürftigen, sondern auch unter leistungsorientierten Besserverdienern, denen der chronisch klamme Vater Staat, wer weiß, demnächst vielleicht schon bei einem Jahreseinkommen von 150 000 oder 100 000 Euro eine Extra-»Reichensteuer« abverlangen wird.
Weshalb kommt denn nun nicht einmal die schwarz-rote Koalition Merkel/Müntefering mit der Sanierung des Gesundheitswesens »zu Potte«? Weil sie - leider noch im- mer getreu dem Muster ihrer rot-grünen und schwarz-gelben Amtsvorgänger - als »Reform« verkauft, was keine Reform ist: Ausgaben kürzen, Leistungen mindern, Abgaben erhöhen, anstatt endlich mutig durchzugreifen gegen die Fehlsteuerung und Vergeudung horrender Gelder in dem weitgehend geschlossenen System der Gesundheitsindustrie.
Man sieht: Vieles ist, viele sind pflegefallverdächtig. Noch immer.

Artikel vom 23.09.2006