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Die Würstchen
unterm Sofa

Geschichte einer Alzheimer-Patientin

Von Stefan Biestmann
Münster (dpa). Maria Kiße gab ihrer Familie Rätsel auf. Sie versteckte Gartengeräte in der Dachrinne und legte Würstchen unter das Sofa.
Gabriele Kiße mit Fotos der verstorbenen Schwiegermutter. Die alte Dame erkannte zuletzt die Familie nicht mehr. Foto: dpa
Als zehn Gäste zum Kaffeekränzchen vor der Tür standen, konnte sich die Frau nicht daran erinnern, die Besucher eingeladen zu haben. »Spätestens da war uns klar, dass mit meiner Schwiegermutter irgendwas nicht stimmte«, erinnert sich Gabriele Kiße. Der Grund für die Versteck-Aktionen und Erinnerungslücken war bald gefunden: Maria Kiße hatte Alzheimer.
Mit ihrer Krankheit war die vor vier Monaten im Alter von 82 Jahren verstorbene Frau nicht allein. 700 000 Menschen in Deutschland leiden an Alzheimer, der häufigsten Form von Demenz. Bis zum Jahr 2050 erwarten Wissenschaftler einen Anstieg der Demenzkranken von heute einer auf 2,3 Millionen. »Das hängt mit der steigenden Lebenserwartung zusammen«, sagt Sabine Jansen, Geschäftsführerin der Deutschen Alzheimer Gesellschaft. Mit bundesweiten Aktionen zum heutigen Welt-Alzheimer-Tag will die Gesellschaft die Bürger mehr auf die Krankheit aufmerksam machen.
Vor allem Menschen über 65 Jahren leiden an Alzheimer. Maria Kiße war 68 Jahre alt, als sie erkrankte. Gabriele Kiße dachte zunächst nicht daran, ihre Schwiegermutter in ein Pflegeheim zu geben. Gemeinsam mit ihrem Mann und ihren drei Töchtern wollte sie ihre Angehörige zu Hause pflegen. Gabriele Kiße besuchte einen Gesprächskreis der Alzheimer-Gesellschaft. »Der Austausch mit anderen Angehörigen hat mir viel Kraft gegeben«, sagt die 49-Jährige.
Ihre Schwiegermutter wurde immer vergesslicher: Die versierte Köchin vergaß alle Rezepte, verstreute Wäsche im ganzen Haus und wusste nicht mehr, wie viele Kinder sie hatte. Gabriele Kiße ließ ihre Schwiegermutter nicht mehr aus den Augen. »Gerade für Angehörige ist die Situation sehr belastend«, sagt Beate Nieding von der Alzheimer Gesellschaft Münster. »Das Risiko ist groß, dass Angehörige irgendwann selbst psychisch oder körperlich erkranken. «
Bei Gabriele Kiße war dieser Moment gekommen, als sie einen Nervenzusammenbruch erlitt. »Ich konnte einfach nicht mehr«, sagt sie. Gemeinsam mit ihrer Familie beschloss die Frau, ihre Schwiegermutter im November 1998 in ein Pflegeheim zu geben. In den zwei Jahren zuvor war Maria Kiße bereits in der Tagespflege gewesen. »Dann war der Moment gekommen, als wir wussten: Meine Schwiegermutter kommt nie mehr nach Hause«, sagt Kiße. Ein wirkliches Zuhause hatte Maria Kiße da schon nicht mehr. Ihren Sohn erkannte sie nicht mehr - und zu einem Bild ihres verstorbenen Mannes auf ihrem Nachttisch sagte sie: »Wer ist das denn?«

Artikel vom 21.09.2006