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»Meine Ehrlichkeit hatte sich bewährt«

Grass und die Vergangenheitsbewältigung

Günter Grass: Das späte Bekenntnis des Schriftstellers, Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein, hat erneut eine Diskussion über eine geeignete Form der Vergangenheitsbewältigung ausgelöst -Êund Erinnerungen geweckt.

Zum Thema Günter Grass:
Bei den nicht enden wollenden Diskussionen um des streitbaren Schriftstellers späte Vergangenheitsbewältigung kamen mir Erinnerungen an eigene (allerdings weniger belastende) Lebensstationen. 1965 bis 1968 hatte ich das Privileg, an der Harvard University in den USA als Dozent zu wirken. Unter anderem gab ich dort Kurse über die Kulturgeschichte Deutschlands.
Unter den Kursteilnehmern waren im Schnitt 60 Prozent junge jüdische Menschen, von denen viele eigene Verwandte in deutschen Vernichtungslagern verloren hatten. Ich hatte mich in der Schlussphase der Kurse nun auch den Entwicklungen zwischen 1933 bis 1945 zu stellen.
Ich weiß heute, dass ich, da ich damals drei Jahre Hitlerjunge war, im Angesicht dieser Studenten das einzige Richtige tat, indem ich rückhaltlos die emotionale Verblendung ansprach: die falsche Romantik von Stolz und Heldentum, vom Getragen-Sein im Volksverband usw., der wir junge Menschen aufgesessen waren. Ich spürte das Risiko im Angesicht dieser jungen Leute, in deren Familiengeschichte das Gefühl des Geschunden-Seins durch das damalige Deutschland noch unmittelbar lebendig war. Ich bekannte auch offen meine Sorge, was aus mir geworden wäre, wenn das Nazi-Abenteuer eine siegreiche Wendung genommen hätte und uns dann nicht - nach der schockhaften Ernüchterung - zu leidenschaftlichen Demokraten hätte werden lassen.
Das Überraschende trat ein: Nicht eine einzige Anfeindung trat mir entgegen, eher eine Art von Betroffenheit bei diesen Studenten. Die Ehrlichkeit hatte sich bewährt, und das weitere Unterrichten gehörte seitdem zu meinen glückhaftesten Erinnerungen.

DR. GÜNTER HERR
per E-Mail

Artikel vom 22.09.2006