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»Versöhnung über den Gräbern« hält
das Bemühen um den Frieden lebendig

Ein Besuch der Soldatenfriedhöfe und Gedenkstätten auf den Schlachtfeldern in Flandern

Von Reinhard Brockmann
Langemark (WB). Noch immer werden Kriegstote zur letzten Ruhe gebettet: Zwei schwarz-rot-goldene Flaggen bedecken acht Sarkophage so klein wie Kindersärge, 100 belgische Grundschüler aus dem benachbarten Poelkapelle singen das Lied vom guten Kameraden in altflämischer Version und selbst der eher zufällige Beobachter John Guthrie aus Kanada wischt sich verschämt eine Träne weg.

Nicht einer der gut 300 Teilnehmer an der Beisetzung von elf deutschen Soldaten des ersten Weltkrieges in der vergangenen Woche kennt die Verstorbenen an diesem spätsommerlichen Tag auf der Kriegsgräberstätte Langemark. 44 350 deutsche Gefallene ruhen hier in Massengräbern.
Horst Howe, Belgienbeauftragter des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, sorgt dafür, dass selbst 88 Jahre nach Kriegsende einigen bislang Vermissten doch noch ein ordentliches Begräbnis zuteil wird. In Flandern, wo der Wahnsinn von Verdun übertroffen wurde, werden immer noch Gebeine gefunden. Völkerrechtlich steht ihnen ein zeitlich unbegrenztes Ruherecht zu.
Die sterblichen Überreste von drei Soldaten waren so ineinander verkeilt, »dass wir sie als Schicksalsgemeinschaft in einem Sarkophag beisetzen« erzählt Howe. Ein anderer Kleinsarg bewahrt ein Zweierschicksal - deshalb nur acht Behältnisse für die Gebeine von elf Soldaten. Über die Toten ist fast nichts bekannt. Einige hatten rote Paspellierungen an der Uniform, ein anderer französische und russische Münzen dabei. Das lässt auf einen vorherigen Einsatz im Osten schließen.
»Auch wenn die Toten keine Angehörigen mehr haben, so stehen wir doch heute mit sehr vielen Trauernden zusammen«, sagt Lucia Christiaen in ihrer zweisprachigen Gedenkrede. Als Leiterin der Jugendbegegnungstätte des Volksbundes in Lommel weiß sie, dass auch die Heutigen am Schicksal der Großväter und Urgroßväter durchaus teilhaben.
»Es lag schon lange ein Toter vor unserem Drahtverhau«, zitiert sie Verse eines deutschen Kriegsteilnehmers. Am Ende begrub der Soldat den eigenen Feind, weil er, je länger er den Gefallenen sah, erkannte: »Es musste mein Bruder sein.« Die Menschheit solle auf diese Gräber schauen, sagt Frau Christianen mit leiser Stimme. »Die Felder von Flandern werden immer die Totenfelder bleiben, zu denen sie der erste und zweite Weltkrieg gemacht hat«, erläutert sie die Volksbund-Forderung nach »Versöhnung über den Gräbern«.
Militärpfarrer Christoph Rau. ist mit einem Ehrenzug der Bundeswehr aus Rheine gekommen. Auch er spricht die Kriegsgräuel unumwunden aus: »Es sind die Gebeine deutscher Soldaten, zerfetzt und verblichen in den Feldern Flanderns«. Deren Fund neun Jahrzehnte später und die nunmehr endgültige Bestattung wertet der Geistliche als Auferstehung »im Geist unseres neuen Europas«.
Die Begegnung mit ihrem Tod erst so viel später »hält das Leben im Diesseits wach und das Bemühen um Frieden lebendig.« Glasklar auch seine Worte zur Historie: »Der Eid dieser Soldaten 1914 auf den deutschen Kaiser liest sich heute wie eine Einwilligung in eine kollektive Hinrichtung.«
Deutsche Kriegsgräberstätten nehmen sich auf den Schlachtfelder der Westfront ausgesprochen bescheiden aus gegenüber den pompösen und heroisierend gestalteten Gedenkstätten der Briten, Franzosen, US-Amerikaner und Kanadier.
So breitet beispielsweise Tyne-Cot (11 977 Gefallene des ersten Weltkriegs) viele, viele Ruhmestafeln zu gigantischen Flügeln aus, die so breit erscheinen wie die Säulenhallen auf dem Petersplatz in Rom. Anspruch und verlorene Glorie des Empires hallen auf der weltweit größten britische Kriegsgräberstätte unüberhörbar nach.
Oder die schneeweißen Kreuze von Henri-Chapelle, einem der größten US-Militärfriedhöfe. Die symbolträchtige Anlage mit Kolonnaden und 13 Sternen für die Gründerstaaten in goldenem Glasmosaik hat durchaus Ähnlichkeiten mit Arlington in Washington, wo John F. Kennedy ruht. Während hier allein US-Soldaten bestattet sind, sind auf der kleinen, gut gepflegten Anlage von St. Symphorien 513 deutsche und britische Opfer des ersten Weltkrieges in stillem Frieden gemeinsam. bestattet.
Aufmerksame Besucher werden sich hier vermutlich eher dem individuellen Tod stellen. Wolfgang Held vom Volksbund sieht darin die wichtigste Form der Auseinandersetzung mit dem Schrecken des Krieges. Der kleine Soldatenfriedhof bei Mons versammelt den ersten und letzten Toten des britischen Commonwealth. Private J. Paar, gestorben am 21. Oktober 1914, ruht nur wenige Meter entfernt von Private G.E. Ellison, der am 11.November 1918 ums Leben kam - Historikern zufolge fünf Minuten bevor der Waffenstillstand in Kraft trat.
Und wer von dem gigantischen britischen Ehrenmal Thiepval - 45 Meter hoch und in blendend weiß-roter Erscheinung - zum deutschen Friedhof Vlatslo kommt, der muss umdenken: Teutonisch, wenig lichtdurchflutet, wagnerianisch, aber nicht bedeutungsschwer, sondern einfach schmerzerfüllt.
Vlatslo ist mit 25 644 Toten einer der vier großen deutschen Sammelfriedhöfe des ersten Weltkriegs. Unter 40 Eichen stehen einige grob gehauene Doppelkreuze, kaum einen Meter hoch. Hunderte schlichte Grabplatten verzeichnen jeweils um die 20 Namen. Höhepunkt der stillen Gestaltung ist das trauernde Elternpaar von Käthe Kollwitz. Die zwei ernsten Figuren - der Vater voll Strenge gegen sich selbst, die Mutter gramgebeugt - sind ein Selbstbildnis: »Peter Kollwitz, Musketier, 23.10.1914« steht unter vielen anderen Namen auf einer der Grabplatten nahebei.
Bis 1934 hat sich die große Bildhauerin, beraten von Ernst Barlach, mit der Darstellung des Schmerzes vieler Soldaten-Eltern gequält. Das Ergebnis ist eine künstlerische, aller Heldenverehrung hohnsprechende Anklage, die für die Toten auf den Blutäckern dieser Welt steht.
Wie beim Aufgang in einen klassischen Tempelbezirk durchschreitet der Besucher von Bourdon an der Somme einen anderen der großen deutschen Friedhöfe in Nordfrankreich. Vor dem schier endlosen Gräberfeld mit Kreuzen aus weißem Kalkstein durchläuft der Besucher schmale Aufgänge und einen kreisrunden Gedenkraum, in dem die Steinplastik »Mutter« von Gerhard Marcks an eine antike Gottheit erinnert. Die Planungen des Architekten Robert Tischler lassen durch das Nadelöhr am Eingang jeden Besucher einsam auf das weite Gräberfeld treten. Der gleiche Planer schuf auch den Friedhof Langemark - dort aus rotem Wesersandstein. An dem Ort zwischen Gent und Dünkirchen, wo nach 90 Jahren immer noch Beisetzungen stattfinden, wurde soeben ein modernes kleines Informationszentrum angefügt. Vier Video-Stationen gaben auch den Teilnehmern der Beisetzungsfeier in der vergangenen Woche ein Gefühl für den Tod, der in Flandern so unerbittlich räuberte.
Wie bei jeder »normalen« Beerdigung waren die Trauergäste anschließend noch zum Imbiss eingeladen. Im benachbarten Gasthaus »Te Lande« stärkten sich belgische Ehrengarde, deutsche Wachsoldaten und Militärmusiker bei Baguette und Bier. Lokale Honoratioren und die Partner vom Volksbund tauschten sich aus. Die Pastöre hörten Lob und Kritik ihrer aufmerksamen Zuhörer. Als nach einer guten Stunde alles aufbrach, empfand jeder in der Trauergesellschaft ein wenig Genugtuung. Alle spürten den Frieden, den die elf unbekannten Weltkriegs-I-Soldaten an diesem Tag endlich gefunden hatten.

Artikel vom 20.09.2006