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»SPD und Union werden Nerven zeigen und heimlich Sollbruchstellen für die große Koalition suchen.«

Leitartikel
Volksparteien ade?

Große Freude bei zwei Kleinen


Von Reinhard Brockmann
So steht's im Lehrbuch: Große Koalitionen stärken die Kleinen.
Die Wahlergebnisse aus Mecklenburg-Vorpommern und Berlin müssen also nicht überraschen. Dass allerdings die großen auf dem besten Weg sind, selbst kleine Parteien zu werden, ist nirgends nachzulesen.
Die SPD ist mit einem blauen Augen davongekommen. Sie ist mit Ach und Krach in beiden Ländern größte Fraktion geblieben. Fürs äußere Bild reicht das. Für jedermann deutlicher fallen die Nackenschläge aus, die sich die CDU eingefangen hat. Trotz länderspezifischer Themen schlagen hier Enttäuschungen durch die große Koalition zu Buche: Gesundheitsreform, Mehrwertsteuer und Merkels Mini-Schritte. Weniger als 60 Prozent sind noch Basis beider Volksparteien. Die extreme Wahlenthaltung verschärft die Gesamtlage einzig und allein zu Lasten der Großen.
Nach den herben Stimmenverlusten für die PDS/Linke in Berlin sollten Demokraten jetzt keinesfalls einzig auf das Abschneiden der NPD blicken - obwohl künftig Rechtsextreme in vier Landtagen sitzen. Nach 1968, auch damals gab es eine große Koalition, ist die NPD 2004 in Sachsen wieder in ein Landesparlament eingezogen. In Brandenburg und Bremen ist die DVU in Landtag/Bürgerschaft vertreten. Beruhigend: Bei der jüngsten Bundestagswahl kam die NPD gerade auf 1,6 Prozent. Auch die Werte im März in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg blieben bescheiden.
In der vielfach gehäuteten Linkspartei/PDS/SED/KPD dürfte trotz des Einbruchs von 22,6 auf noch 13,4 Prozent das Abschneiden in Berlin nur als hinnehmbarer Ausrutscher gelten. Denn die Kraftprobe mit der Wahlalternative Soziale Gerechtigkeit (2,9 Prozent) wurde gewonnen. Auch die letzten linken Weltverbesserer in den anderen WASG-Landesverbänden müssen jetzt begreifen, was die Stunde geschlagen hat.
Jene auf der politischen Linken, die auch früher schon stets auf Abstand zu KPdSU/Moskau und SED/Ost-Berlin gegangen sind, lernen einmal mehr: Die Volksfrontstrategen haben ihr Ziel erreicht. Fazit: Jene Kader, die die DDR-Geschichte ungestraft glorifizieren, sind breiter und zahlenmäßig sehr viel besser aufgestellt als die Ewiggestrigen am anderen Ende des politischen Spektrums.
Viel spricht auch dafür, dass Klaus Wowereit eine rot-grüne Koalition schließt. Die Linksextremisten dürften gar nicht so unfroh wieder Opposition pur fahren. Nichts ist schöner als besserwisserisch den Lafontaine zu geben.
Die Linkspartei hat die WASG geschluckt und sich die große Bühne für totale Opposition gesichert: Die, die Herbert Wehner einst »rotlackierte Faschisten« nannte, können gewiss sein, mindestens in sechs Ländern und auf Bundesebene zweistellige Wahlergebnisse einzufahren.
SPD und Union werden dagegen Nerven zeigen und heimlich Sollbruchstellen für die große Koalition suchen - auch auf die Gefahr hin, mit je 30 Prozent wiedergewählt zu werden.

Artikel vom 19.09.2006