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Hass auf das Spiegelbild
Magersucht und Bulimie: Ursache ist nicht nur Schönheitswahn
Wenn Sonja früher in den Spiegel schaute, sah sie sich selbst ganz anders als andere: »Ich ekelte mich oft vor mir selbst und entwickelte ein Hassgefühl auf mich, fühlte mich dick und unausstehlich.« Dabei war sie dünn, spindeldürr, wie manche sagen würden. Die 18-Jährige war magersüchtig. Eine Krankheit, die tödlich enden kann.

»Magersucht ist das Resultat eines krankhaften Schönheitswahns«, lautet ein weit verbreitetes Klischee. Denn Magersucht und auch Bulimie, die Ess-Brech-Sucht, sind nach Expertenmeinung nicht nur das Ergebnis falscher Ideale. Im Gegenteil: Viel häufiger sind sie die Folge von frühen Traumata, von zu hohen Anforderungen anderer oder an sich selbst oder eine Folge von zu großem Stress.
In Deutschland leiden nach Angaben des Deutschen Instituts für Ernährungsmedizin und Diätetik (DIET) in Aachen mehr als 100 000 Menschen, insbesondere Frauen zwischen 15 und 35 Jahren, an Magersucht, 600 000 Frauen und Männer an der Ess-Brech-Sucht (Bulimia nervosa). Die Zahl der magersüchtigen Männer liege bei fünf bis zehn Prozent - mit steigender Tendenz.
Fachleute beschreiben die Krankheiten so: Bei Magersucht und Bulimie kontrolliert der Betroffene sein Körpergewicht, indem er seine Nahrungsaufnahme immer weiter reduziert (Magersucht), beziehungsweise große Mengen von Essen auf einmal zu sich nimmt, um anschließend alles wieder zu erbrechen (Bulimie).
Magersucht tritt nach Informationen der »Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung« vor allem im Alter zwischen 14 und 18 Jahren auf. Es gebe aber auch Ersterkrankungen vor dem 10. und nach dem 25. Lebensjahr. An Bulimie erkranken die meisten Patienten zwischen dem 18. und 35. Lebensjahr.
Sonja geht mit ihrer Krankheit heute recht offen um, was ihr früher nicht möglich war. Die Gefühle seien sehr stark, man denke 24 Stunden am Tag nur ans Essen oder eben ans Nicht-Essen. Das hat natürlich ihre Lebensqualität ungemein gemindert. »Ich habe immer versucht, die Krankheit zu verstecken, was aber nach einer deutlichen Gewichtsabnahme einfach nicht mehr geht.« So »beichtete« sie schließlich ihrer Familie die Probleme.
Viele wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen, wenn plötzlich jemand aus der Familie oder dem Bekanntenkreis offenbart, was los ist. Manche sind einfach sprachlos - wie Sonjas Mutter. »Sie hat nicht viel gesagt, sie wusste nicht was.«
Natürlich ist es recht unterschiedlich, wie die Familie auf so eine Situation reagiert. Manche unterstützen den Kranken, wo sie nur können, und versuchen, ihm auf dem langen Weg zur Besserung zu helfen. Andere versuchen das Problem zu verdrängen.
Und sagen die Freunde zu der Situation? »Diejenigen, die es wussten, gingen unterschiedlich damit um. Im Allgemeinen haben sie sich total hilflos gefühlt, wollten aber helfen und haben viel auf mich eingeredet. Doch das bringt nichts, wenn man nicht selbst aktiv wird.« Solange die Unterstützung von Freunden und Familie da ist, sei das aber schon sehr hilfreich.
Wie denkt ein Betroffener selbst über die Essstörung? Sonja: »Natürlich hasse ich die Krankheit. Ich sehe sie aber als eine Art Ausweg. Klar, es ist der falsche Weg, den man einschlägt. Leider muss ich aber sagen, dass sie mir auch irgendwie geholfen hat: Ich habe daraus gelernt und vieles geändert im Leben.«
Dennoch ist die Krankheit nicht zu unterschätzen, in vielen Fällen ist sie ein Begleiter für das ganze Leben - und immer wieder gibt es Fälle, die tödlich enden. Auch ist nicht jedem durch eine Therapie geholfen. Experten wissen: Solange der Betroffene nicht selbst den Willen hat, die Essstörung zu besiegen, ist selbst die beste Therapie wirkungslos.
Selten bleibt eine solche Krankheit ohne Folgeschäden. Da Magersucht und Bulimie wie eine Sucht wirken, haben Betroffene häufig ihr ganzes Leben lang mit ihnen zu kämpfen. »Dennoch ist es möglich, gegen die Krankheit anzugehen und sie zu besiegen«, weiß Sonja. Sie hat es heute geschafft - mit Hilfe ihrer Freunde, der Familie und einer guten Therapie. Anne-Kathrin Bielz

Artikel vom 23.09.2006