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Ein sozialer Dienst, so
bekannt wie Coca-Cola

Die Telefonseelsorge wird 50 - Festakt im Berliner Dom

Von Matthias Meyer zur Heyde
Bielefeld (WB). In einer frostigen Soziallandschaft, in der die psychische Betreuung des Menschen zum Luxusgut wird, verstrahlt ein Leuchtfeuer wärmend-optimistisches Licht - und das seit nunmehr 50 Jahren: die Telefonseelsorge.

»Es macht uns stolz und erfüllt uns mit großer Freude, dass wir hilfsbedürftigen Menschen während der Dauer fast der gesamten Nachkriegszeit ein niedrigschwelliges Angebot unterbreiten können«, sagt Dr. Hanni Berthold, die Leiterin der Telefonseelsorge Bielefeld-OWL. Die Pastorin und sieben weitere Mitarbeiterinnen zelebrieren an diesem Samstag im Berliner Dom das 50-jährige Bestehen der Telefonseelsorge.
»Wir sind so bekannt wie Coca-Cola«, versichert Elisabeth Kamender, die stellvertretende Leiterin der Bielefelder Telefonseelsorge. Mitarbeiterinnen wäre korrekter, denn im 1974 gegründeten Bielefelder Ableger des einst in Berlin als »Ärztliche Lebensmüdenbetreuung« aus der Taufe gehobenen Dienstes spenden nur 17 Männer - neben 83 Frauen - telefonischen Trost.
Sie alle schultern eine schwere Last: In täglich 85 Anrufen (an Wochenenden können es 150 werden), mittwochs in der Beratung via E-mail, werden die Seelsorgerinnen im Dienste der beiden christlichen Kirchen mit bedrückenden Problemen konfrontiert. Die heimische TS verzeichnete 2005 21 314 Anrufe; bis September dieses Jahres wurde bereits die 25 000er-Marke überschritten.
Wer zum Hörer greift, ist oft psychisch instabil, leidet an Alkoholsucht, verzweifelt an familiären Zwistigkeiten oder durchschreitet das düstere Tal der Arbeitslosigkeit. 60 von 100 Anrufern sind Frauen, in 30 Fällen meldet sich eine männliche Stimme, und der Rest (Tendenz stark steigend) sind Kinder. »Die suchen Zuspruch in den Wirrnissen der ersten Liebe, bei Schulproblemen und Stress mit Eltern und Gleichaltrigen«, berichtet Hanni Berthold.
Schlechtes Zeugnis für die Single-Gesellschaft: Fast jeder dritte Anrufer lebt allein. Angstzerfressene, Depressive, Selbstmordgefährdete - wer inmitten dieses Leides eine Stütze sein will, muss belastbar sein. »Im ersten Jahr unserer Ausbildung hören wir in uns hinein, ob wir selbst stark genug sind, wir machen uns mit den Gesprächsthemen vertraut und bereiten uns in Rollenspielen auf die Praxis vor«, erzählt eine Psychologiestudentin (die Telefonseelsorgerinnen bleiben anonym).
Im zweiten Ausbildungsjahr, dessen Erfolg ein Zertifikat bescheinigt, widmen sich die Neuen bereits den Hilfsbedürftigen, nutzen aber die regelmäßigen Gruppenabende gerne zur Nachbesprechung. Positive Reaktionen bauen auf. »Ich erfahre hier im Kreise der Freundinnen so große Wertschätzung, dass ich mein Berufsleben als Therapeutin unbedingt in Bielefeld beginnen möchte«, kündigt die Studentin an.
Sieben, acht Jahre lang bleiben die Frauen (und ihre wenigen männlichen Mitstreiter) im Schnitt dabei, aber die Harmonie in der Gruppe erleichtert auch den Entschluss zu deutlich längeren »Dienstzeiten«: »Ursprünglich suchte ich bei der TS nur Anregungen zum Umgang mit Patienten«, gesteht eine ehemalige Krankenschwester, die seit 25 Jahren dabei ist. »Längst jedoch mag ich die Stunden am Hörer nicht mehr missen, denn es ist ein wunderbares Gefühl, Menschen in Not ein wenig von der eigenen Kraft abzugeben.«
Dass die Telefonseelsorge nicht etwa professionelle Therapien fortsetzt, sondern nicht betreute Zeit - die Nacht! das lange Wochenende! den Urlaub des Psychologen! - überbrückt, ist den »Te-Esserinnen« (interner Jargon) wohlbewusst, mindert aber keineswegs ihren Elan. »Ich gebe immer mein Bestes«, versichert eine der Frauen, die seit 23 Jahren hilft.
Und die Anrufer honorieren das: »Oft schon am Ende des Gesprächs dankt man uns, gelegentlich auch nach dem Ende der Krise«, berichtet eine Ehrenamtliche. Ein privater christlicher Hintergrund übrigens ist nicht Voraussetzung für die Einstellung als Telefonseelsorgerin, aber Toleranz ist wichtig: »Wir beten auch mit den Anrufern, wenn sie das wünschen.«
Die aus England stammende Idee der Hilfe für verzweifelte Menschen wurde hierzulande zuerst in Berlin aufgegriffen. Mittlerweile leistet die TS in 105 deutschen Städten ihre segensreiche Arbeit, von manchen Kommunen finanziell gefördert, »in Bielefeld leider nicht.« Träger der wahrhaft ökumenischen Institution sind die beiden Kirchen.
Die (kostenlosen) Telefonnummern:
08 00 / 11 10-111 und
08 00 / 11 10-222
info@telefonseelsorge-bielefeld.de
 www.Telefonseelsorge-Bilefeld-OWL.de

Artikel vom 16.09.2006