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Ein selbstbestimmtes Leben bis zuletzt

Krebskranke Rentnerin Charlotte Lüthen (76) begibt sich ins Hospiz »Haus Zuversicht«

Von Christian Althoff
Bielefeld (WB). Charlotte Lüthen greift nach der fast leeren Zigarettenschachtel, die auf dem Nachttisch liegt, und zündet sich eine »Lord« an. »Warum soll ich jetzt noch darauf verzichten?«, fragt die bettlägerige Frau und nimmt einen tiefen Zug. Die 76-Jährige lebt seit kurzem im Bielefelder Hospiz »Haus Zuversicht« und möchte dort in Würde sterben.
Das »Haus Zuversicht« in Bielefeld: Vor 100 Jahren erbaut, dient es seit acht Jahren als Hospiz. Pro Jahr kümmern sich 20 Mitarbeiterinnen und ebenso viele ehrenamtliche Helfer um etwa 120 Sterbende.
Vor fünf Jahren hatte die Bielefelderin ihren Ehemann Lothar verloren - nach 45 Jahren Ehe. »Es war kein schöner Abschied«, erinnert sich Tochter Jutta Bautz (46). Ihr Vater sei im Krankenhaus verstorben, und als die Familie dort von ihm Abschied nehmen wollte, sei immer wieder eine Krankenschwester aufgetaucht und habe gefragt, ob sie den Toten »nun endlich nach unten bringen« könne.
Charlotte Lüthen hat sich deshalb entschlossen, ihre letzten Wochen in einem Hospiz zu verbringen. »Ich habe ein schönes Leben gehabt, und das geht nun zu Ende«, sagt die Seniorin, die geistig hellwach ist. Im Frühjahr hatten Ärzte bei der Frau, die 23 Jahre als Laborhelferin im Chemischen Untersuchungsamt Bielefeld gearbeitet hatte, einen Lungentumor festgestellt. »Und seitdem geht es mit mir bergab«, erzählt die 76-Jährige. »Durchblutungsstörungen in den Beinen fesseln mich ans Bett, und ich wiege nur noch 40 Kilogramm.«
Im »Haus Zuversicht« fühlt sich Charlotte Lüthen gut aufgehoben und umsorgt. »Die kümmern sich hier um mich wie um ein Baby«, lächelt sie. Das 100 Jahre alte frühere Pfarrhaus, das zu den Bodelschwingh'schen Anstalten Bethel gehört, hat Platz für zehn Gäste. Jeder hat sein eigenes, großzügiges Zimmer - eingerichtet mit individuellen Möbeln, mit Bildern an den Wänden, von Krankenhausatmosphäre keine Spur. Der Blick aus den hohen Fenstern geht auf mächtige, 100 Jahre alte Bäume, die in diesen Tagen ihre ersten Blätter verlieren. 20 Tage bleiben die Menschen durchschnittlich im »Haus Zuversicht«. Der jüngste Gast, den Hospizleiterin Ulrike Lübbert und ihre 20 Mitarbeiterinnen begleitet haben, war ein 21 Jahre alter Mann mit einem Hirntumor, der älteste Hospizbewohner verstarb 94-jährig.
»Es ist schön, dass ich hier in meinen letzten Tagen so leben kann, wie ich es möchte«, sagt Charlotte Lüthen. Dazu gehört die tägliche Schachtel Zigaretten ebenso wie der eigene Tagesrhythmus. »Anfang der Woche habe ich morgens bis elf Uhr geschlafen. Hier wird niemand geweckt, nur weil es Frühstück gibt«, erzählt die Seniorin. Das Hospiz ist rund um die Uhr für die Familien der Gäste geöffnet, und die Angehörigen der 76-Jährigen nutzen diese Möglichkeit jeden Tag. »Mein Enkel Alexander hat mir kürzlich sogar chinesisches Essen mitgebracht, und wir haben es uns gemeinsam schmecken lassen!«, lächelt Charlotte Lüthen, und erzählt, dass ihre Tochter sie regelmäßig mit Kreuzworträtseln und den neuesten Arztromanen versorge: »Am liebsten lese ich die Geschichten von Dr. Norden. Die Hefte sind nicht so dick und schwer, die kann ich gut halten.«
Dann wird die Bielefelderin plötzlich still, greift zu einem Papiertaschentuch und bricht in Tränen aus. Sie erzählt, dass sie in der vergangenen Woche den Pastor zu sich ans Bett gebeten und mit ihm über ihre Beerdigung gesprochen habe. »Das war kein aufbauendes Gespräch«, schluchzt die alte Frau kopfschüttelnd und schnäuzt sich. Sie verharrt für einen Moment und blickt ins Leere, dann hellt sich ihre Miene wieder auf. »Ich werde jedenfalls keine Schmerzen haben. Das hat mir der Arzt versprochen«, sagt Charlotte Lüthen. Derzeit genügt ihr ein leichtes Medikament. Sollten die Beschwerden zunehmen, wird der niedergelassene Arzt, der bei Bedarf nach den Gästen im »Haus Zuversicht« sieht, Charlotte Lüthen ein stärkeres Mittel verschreiben. »Niemand muss leiden«, versichert Hospizleiterin Ulrike Lübbert.
Am Ende des Lebens sind es die kleinen Dinge, die viel bedeuten. So blickt Charlotte Lüthen erwartungsvoll diesem Sonntag entgegen, wenn ihre engsten Verwandten kommen und sie im Rollstuhl auf einen Spaziergang mitnehmen wollen - in die spätsommerliche Natur am »Haus Zuversicht«.

Artikel vom 16.09.2006