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Aus der Rente ins Büro

Immer mehr Firmen zapfen Expertenwissen von Senioren an

Von Jenny Tobien
Hamburg (dpa). Über Jahre haben Unternehmen auf junge Mitarbeiter gesetzt und ältere Arbeitnehmer lieber früher als später nach Hause geschickt. Inzwischen hat in vielen Firmen ein Umdenken eingesetzt: Fachwissen und Erfahrung der über 50-Jährigen sind wieder gefragt.

Einer der Gründe ist der demographische Wandel, der die Personalchefs zum Umdenken zwingt. »Spätestens in einigen Jahren, wenn Vertreter der geburtenarmen Jahrgänge ihr Studium abgeschlossen haben, wird der Mangel an qualifizierten Nachwuchs deutlich«, sagt Werner Eichhorst vom Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn.
Der Lücke bei jungen Arbeitskräften steht eine große Zahl von Rentnern gegenüber, die über ein umfangreiches Fachwissen verfügen und auch im Alter neue Herausforderungen suchen. Allein im Internetportal »Erfahrung Deutschland« bieten derzeit etwa 2000 rüstige Senioren ihre Fachkenntnisse an.
»Den Ruheständlern geht es weniger um Geld als um das Gefühl, gebraucht zu werden«, sagt Steffen Haas, der das Online-Portal vor sieben Monaten ins Leben rief. Bis Jahresende rechnet er mit 5000 Vermittlungswilligen, deren Kontaktdaten sich Unternehmen gegen Bezahlung freischalten lassen können. Die Arbeitsverträge verhandeln Firmen und die Senioren dann unter sich aus.
Gänzlich auf Bezahlung verzichten dagegen die Mitarbeiter des Bonner Senior Experten Service (SES), die rund um den Erdball tätig sind. »Seit unserer Gründung vor über zwanzig Jahren haben wir etwa 16 000 Einsätze vor allem bei kleineren und mittelständischen Unternehmen organisiert«, sagt Julia Haun vom SES. So half etwa der 62 Jahre alte frühere Speditionskaufmann Volker Deising das Marketing einer Brandenburger Logistikfirma zu verbessern.
Wie wichtig das Wissen und die Erfahrung älterer Arbeitskräfte besonders bei weniger großen Firmen ist, zeigt eine von der Deutschen Senioren Liga in Auftrag gegebene Studie. Die Hälfte der 400 befragten Unternehmen aus dem Mittelstand fühlt sich schlecht auf den demographischen Wandel vorbereitet. Gleichzeitig schätzten die Firmen Zuverlässigkeit, Verantwortungsgefühl und soziale Kompetenz bei älteren Mitarbeitern deutlich höher ein als bei jüngeren.
Zudem ergab die Untersuchung, dass bereits jedes zweite Unternehmen die Daten langjähriger Mitarbeiter erfasst, um diese nach ihrem Ausscheiden um Rat fragen zu können. Aber auch Großkonzerne wie Siemens oder das Pharmaunternehmen Pfizer setzen auf den befristeten Einsatz ehemaliger Angestellter. »Dabei handelt es sich um Führungskräfte, die uns mit ihrem fachlichen Know-how oder ihrer interkulturellen Kompetenz bei bestimmten Projekten mit Rat und Tat zur Seite stehen«, sagt Siemens-Sprecher Michael Scheurer.
Der Stuttgarter Technikkonzern Bosch hat vor sieben Jahren sogar eine eigene Tochter gegründet, die für die Rekrutierung von Mitarbeitern zuständig ist. »Mit etwa 9000 Einsätzen in diesem Jahr werden sich die Aufträge seit 2002 mehr als versechsfachen«, sagte eine Sprecherin von Bosch Management Support. Derzeit seien 300 Ruheständler im Alter zwischen 60 und 72 Jahren in der Kartei registriert. Für ihre ein- bis fünfwöchigen Einsätze, von denen knapp ein Drittel im Ausland stattfinden, bekommen die ehemaligen Manager und Fachkräfte ein Tageshonorar von 300 bis 800 Euro.

Artikel vom 16.09.2006