16.09.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 


»Die vermüllten Wohnungen der Messies stehen immer im Vordergrund. Tatsächlich ist das nur ein Symptom und längst nicht zwangsläufig«, betont Anja Raskob. Nur etwa 60 Prozent der Messies haben die Neigung zu horten und ihre Wohnung vollzustopfen, schätzt Marianne Boenigk-Schulz, Vorsitzende des Fördervereins. »Viele Messies sind im Gegenteil zwanghaft ordentlich, putzen exzessiv«, sagt Raskob. Darüber aber kommt dann die Beschäftigung, die Erledigung anderer Dinge zu kurz.
Dem Messie-Syndrom, so die Psychologin, liege eine Desorganisation und Desorientiertheit in Raum und Zeit zugrunde. »Und es ist Ausdruck persönlicher Bindungslosigkeit, der emotionalen Schwierigkeit, sein Leben zu bewältigen.« Mehr Schicksalsschläge als andere Menschen hätten die Betroffenen in aller Regel nicht. »Aber sie verarbeiten solche Erlebnisse einfach schlechter.«
Die Psychologin hat in ihrer Studie die Hypothese aufgestellt, dass unsichere primäre Beziehungen in den ersten Lebensjahren dafür verantwortlich sind. »Ein Lösungsansatz für die Messies ist dann, das Interesse an anderen aufzugeben und es auf Materielles zu richten.« Das sei dann wenigstens zu kontrollieren. Ein aktives Sammeln und Horten betreiben die Messies dabei nicht. »Sie entsorgen nur einfach nicht.«
Ihnen beim Aufräumen zu helfen ist tatsächlich aber keine Hilfe: »Sie würden das als Übergriff verstehen. Denn für Messies sind die Dinge beseelt, sie bilden eine Art Schutzwall.« Für sie sei es existenziell bedrohlich, wenn sie sich davon trennen müssten. »Das ist fast, als ob andere einen Partner verlieren.« Deswegen bringt es auch wenig, wenn Behörden aktiv werden und - wie in Darmstadt - die Wohnungen Betroffener entrümpeln. Auch ein Wohnungswechsel bringt nichts: Der alte Zustand ist schnell wieder hergestellt.
Dabei leben Messies - vielleicht entgegen der Erwartung - längst nicht immer alleine. Viele haben Familie, leben aber, wie Marianne Boenigk-Schulz weiß, distanziert, in einer Grundstimmung der Hoffnungslosigkeit und Antriebslosigkeit. Das führe, erklärt Anja Raskob, zum Vermüllen, zur Emotionalisierung der Besitztümer oder eben zum Drang, überperfekt aufzuräumen - »ein Anspruch, den sie so rigide nicht einlösen können«. Aus Ordnungssinn wird dann Ordnungswahn. »Typisch für Messies ist sozusagen ein Mehr desselben. Sie beschäftigen sich mit Ordnung, obwohl es darum gar nicht geht.« Auf ihren Internetseiten, so Raskob, erfolge mit Ausdauer der Austausch über Putzmittel und -lappen, über die richtige Art zu putzen. »Und immer wieder ist ein Thema der Umgang miteinander.«
Nach der Erfahrung der Psychologin sind viele Messies anderen gegenüber ablehnend bis feindselig. »Damit beugen sie vor und verhindern, dass ihnen andere zu nahe kommen.« Ursache sei die frühkindliche Erfahrung, dass die Beziehungen zu anderen instabil sind. Sie haben vielleicht Spannungen zwischen den Eltern erlebt, in denen sie zu Vertrauten intimer Sorgen gemacht wurden, und fanden selbst keinen angemessenen emotionalen Rückhalt. Bereits in der Kindheit, so ein Ergebnis der Untersuchung, war eine soziale Isolation die Folge, kam es zum Rückzug aus unüberschaubaren Situationen. »Die Welt ist unsicher, die anderen sind unsicher und auf mich kann ich mich auch nicht verlassen - das ist die frühe Erfahrung.« Statt mit Menschen befassen sich Messies daher mit Ordnung oder binden sich an Dinge - »und sind irgendwann sozial nicht mehr geübt«.
Deutlich erhöht ist bei Messies - eine Diagnose, die es so eigentlich in der Psychologie nicht gibt - die Neigung, nach traumatischen Ereignissen zu »dissoziieren«, sich abzuspalten und sich nicht erinnern zu können. Auf Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen, erklärt die Psychologin, reagieren die einen mit Trauer oder Essstörungen, die anderen eben mit Chaos oder Perfektion. Eine Therapie, bilanziert Anja Raskob, müsse kognitive Verhaltenstherapie, Tiefenpsychologie und strukturierte Hausaufgaben umfassen.

Artikel vom 16.09.2006