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An Vaters Koffer hängt so viel

Ein Franzose verlangt von Museum in Auschwitz Familienstück zurück

Von Dietmar Kemper
Bielefeld (WB). Der Koffer in der Pariser Holocaust-Gedenkstätte »Mémorial de la Shoah« ist für Michel Lévi-Leleu unendlich wertvoll. Er gehörte seinem Vater Pierre, der im April 1943 von den Nazis in Avignon verhaftet und anschließend ins Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert worden war.

Dort wurde der Jude als »Pierre Lévi - 48 Gruppe 10« geführt, wie das Namensschild auf dem Koffer verrät. Das Zyklon B der Nazis brachte Pierre Lévi um, aber für seinen 68-jährigen Sohn ist die Geschichte der Familie nach der Entdeckung des Koffers lebendiger denn je.
Im Februar 2005 hatte Michel die Leihgabe aus dem staatlichen Museum der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau beim Besuch des Mémorial in Paris gesehen und war tief »bewegt«. Sofort tauchten Bilder des Vaters mit dem Koffer in der Hand vor seinem geistigen Auge auf. Michel beschloss für sich, dass der so erinnerungsschwere Koffer nicht mehr nach Auschwitz zurück soll, sondern für immer in Paris bleiben muss. Unterstützt von Mémorial-Direktor Jacques Fredj wandte er sich nach Polen, aber dort wurde sein Ansinnen mit der Begründung abgelehnt, die wenigen persönlichen Gegenstände der ermordeten Juden dürften nicht zerstreut werden.
Der Internationale Auschwitz-Rat zeigte sich lediglich dazu bereit, den Koffer für weitere sechs Monate in Paris zu zeigen. Bevor das Familienstück im Januar 2006 nach Auschwitz zurückgebracht werden sollte, schaltete Michel Lévi-Leleu (68) die Gerichte ein, klagte als Eigentümer des Koffers und ließ ihn beschlagnahmen. Ein Urteil in der spektakulären Geschichte wird in den nächsten Wochen erwartet.
In Deutschland sei kein vergleichbarer Fall bekannt, sagte die Geschäftsführerin des Deutschen Museumsbundes, Mechtild Kronenberg, dieser Zeitung. Das heißt aber nicht, dass Nachfahren ermordeter Juden in Ausstellungen noch nie auf Stücke aus Familienbesitz gestoßen sind. Nur sichern sich die Museen in Deutschland gegen Ansprüche ab. Der Paragraph 20 des »Gesetzes zum Schutz deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung« liefert dafür die juristische Handhabe. »Auf dessen Grundlage können das aus- und das entleihende Museum eine Rückgabegarantie vereinbaren«, sagte Professor Kurt Siehr vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg dieser Zeitung.
Die rechtsverbindliche Rückgabezusage wird bei den Kultur- und Kultusministern der Länder und beim Bundesbeauftragten für Kultur beantragt. Ist sie erteilt, sind bis zur Rückgabe an den Verleiher gerichtliche Klagen auf Herausgabe, Pfändung und Beschlagnahme unzulässig. »Für den Franzosen Michel Lévi-Leleu ist der Koffer ein hochwertiges Erinnerungsstück«, zeigt der Stellvertretende Leiter des Westfälischen Museumsamtes (Münster), Günter Bernhardt, Verständnis für dessen Vorgehen. Kann der Nachweis dafür erbracht werden, dass jüdischer Besitz geraubt oder unter Druck unter Wert verkauft wurde, können Angehörige auch in Deutschland vor Gericht Anspruch auf Rückgabe erheben. Dabei geht es in den seltensten Fällen um Koffer, sondern in der Regel um Kulturgüter wie Bilder.
Bundesregierung, Länder und kommunale Spitzenverbände haben sich am 14. Dezember 1999 in einer Erklärung »zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz« verpflichtet. »Die Museen untersuchen ihre Bestände auf Stücke aus ungeklärtem Besitz«, erklärte Museumsbund-Geschäftsführerin Kronenberg.
Der Leiter der Dokumentationsstätte »Stalag 326« in Stukenbrock-Senne (Kreis Gütersloh), Werner Busch, glaubt, dass Sammlungsstücke in Museen besser aufgehoben sind: »Für die Gesellschaft haben sie einen höheren Wert, wenn sie in einer Ausstellung bleiben, anstatt in einem Privathaus in Vergessenheit zu geraten.« Spätestens die Enkel-Generation habe kaum noch einen Bezug zu Gegenständen wie dem Koffer. Busch schlägt als Lösung für den Rechtsstreit in Frankreich vor: »Lévi-Leleus und das Museum der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau sollten vereinbaren, dass der Koffer bis zum Tod des Mannes in Paris bleibt und dann an den Fundus in Polen zurückfällt.«

Artikel vom 26.09.2006